Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
Vom Netzwerk:
können, wenn ich Essen bestelle. Rührei tut es nicht, verlorene Eier tun es auch nicht, nein, ich möchte ein Spiegelei: Eine runde Scheibe mit Sonnengelb in der Mitte soll meinen Teller zum Glänzen bringen.
    Ich lege meine rechte Hand um den Stielschalter und bin bereit. Die rechte Hand ist brauchbarer als die linke, ich vertraue ihr. Gleich werde ich sie auffordern, zu tun, was ich von ihr verlange.
    Der Cursor bewegt sich weiter, und jedes Feld leuchtet ein paar Sekunden auf, bevor das nächste aufflackert. › Ei ‹ und › Rührei ‹ sind vorbei, der Cursor wandert. › Spiegelei‹ taucht auf. Es steht zwischen › verlorene Eier ‹ und ›gekochtes Ei‹ . Ich warte darauf, zuschlagen zu können.
    Endlich. Das Symbol leuchtet auf. Doch als ich meine Finger um den Schalter legen will, merke ich bereits, dass sie sich nicht schnell genug bewegen werden. Ich versuche erneut, sie zusammenzupressen, doch sie gehorchen mir nicht. Meine Hand hat mich im Stich gelassen, und Ärger macht sich in mir breit, als ich zusehen muss, wie das Licht zum nächsten Symbol wandert. Ich habe das Spiegelei verpasst. Es war da und ist verschwunden. Jetzt muss ich warten, bis sich der Cursor erneut durch das gesamte Gitter bewegt, bevor ich eine weitere Chance bekomme, mein Spiegelei zu bestellen.
    Ich hole tief Luft. Kommunizieren ist für mich ein verdammt mühsames Geschäft. Es erfordert jene Art von Geduld, die ich jahrelang meistern musste, worüber ich jetzt fast froh sein darf.
    Ich beobachte, wie die Wörter erneut vor mir aufleuchten. Komme, was da wolle, ich kriege mein Spiegelei. Dann klicke ich auf das letzte Symbol – › sprechen‹ –, und am Ende wird meine elektronische Stimme das Sagen haben.

----
    16
Ein Geheimnis gestehen
    D en genauen Zeitpunkt, wann ich mich in Virna verliebt habe, kann ich nicht mehr benennen. Möglicherweise wuchs das Gefühl aber auch so langsam, dass ich gar nicht merkte, wie es ein Teil von mir wurde. All das weiß ich nicht sicher, doch gewiss ist in diesem Moment, dass ich sie liebe.
    Ich bin im Pflegeheim, und Virna spricht mit mir. Ich freue mich jetzt mehr denn je auf ihre Besuche, weil sie ein beruhigendes Mittel gegen den Groll sind, der sich langsam in mir aufbaut. Ich verstehe nicht, weshalb ich immer noch ins Pflegeheim geschickt werde, obwohl ich im Gebrauch meines Computersystems von Tag zu Tag besser werde. Es ist Ende 2002 – über ein Jahr nach meinen Tests –, und obgleich ich genau weiß, dass ich bewiesen habe, nicht mehr in dieses Heim zu gehören, scheint niemand etwas mit mir anfangen zu können, und ich kann nirgends hin. Wenn es hier schon schwer auszuhalten war, als noch niemand wusste, dass mein Verstand ungebrochen arbeitete, dann ist es jetzt tausendmal schwerer.
    Ich lebe zwei Leben: In dem einen sitze ich zu Hause und lerne an meinem Computer, wobei ich das Gefühl habe, vielleicht schon bald zum ersten Mal Teil der Welt zu sein; im anderen hänge ich im Pflegeheim herum, mit einer Mappe voller Symbole auf meinem Schoß, für die sich niemand wirklich interessiert, und ich fühle mich so tot wie ehedem. Es wird immer schwieriger, zwischen diesen beiden Welten zu pendeln.
    Vor einiger Zeit machten meine Eltern eine kurze Reise, und ich wurde in ein Wohnheim geschickt, das ich nicht kannte. Jeden Morgen wurde ich in einen ungepflasterten Hof geschoben, der von einem hohen Metallzaun umgeben war. Da saß ich dann wie ein Tier im Zoo. Zum Abend hin wurde ich wieder ins Haus geschoben, wo es weder Fernseher noch Radio gab, absolut nichts, das die Monotonie hätte durchbrechen können. Das Einzige, was sich änderte, war das Geräusch der Autos auf einer nahe gelegen Straße, und jedes Mal, wenn ich eins kommen hörte, träumte ich, da wolle mich jemand abholen. Doch ich wurde nicht erlöst, und ich konnte nichts unternehmen, um meine Wut und Enttäuschung abzureagieren, die in meinen Adern pulsierten. Wann beginnen die Leute mich endlich als den zu betrachten, der ich bin, statt in mir nur einen zerbrochenen Panzer zu sehen, der mich einschließt? Was kann ich unternehmen, um sie zu überzeugen, dass ich nicht mehr in derartige Einrichtungen gehöre und dass es falsch ist, mir das anzutun?
    Obwohl ein paar Leute mitbekommen haben, wozu ich alles in der Lage bin, werde ich immer noch wie ein Kind behandelt, das keine eigene Meinung hat. Virna ist die Einzige, die mich als gleichrangig einstuft, und in mir wächst die Sicherheit, dass ich ihr etwas bedeute.

Weitere Kostenlose Bücher