Als ich unsichtbar war
sich richtig um ihn kümmert, bei Leuten, die etwas davon verstehen. Wir könnten ihn besuchen, und David und Kim wären viel glücklicher.«
»Ich will ihn aber hierbehalten. Ich kann ihn nicht weggeben.«
»Und was ist mit mir, Kim und David? Das tut keinem von uns gut. Es ist einfach zu viel.«
So setzte sich der Kampf endlos fort, wurde immer verbissener, weil jeder versuchte, diesen Krieg zu gewinnen, und ich musste mir das immer mit anhören. Ich wusste, dass ich der Grund war, und ich wünschte, ich könnte an einem sicheren, dunklen Ort sein, wo ich diesen Streit nie mehr zu hören bekäme.
Manchmal, nach einem besonders heftigen Krach, rannte Mam aus dem Zimmer, doch eines Abends setzte mich Dad ins Auto und fuhr los. Ich fragte mich, ob wir wohl jemals wieder nach Hause zurückkehren würden, und ich fühlte mich schuldig, was ich meiner Familie angetan hatte. Ich war dafür verantwortlich, was ihnen widerfuhr. Wenn ich gestorben wäre, würde es allen besser gehen. Natürlich fuhren wir dann schließlich doch nach Hause, und das vertraute eisige Schweigen, das jedem Streit folgte, hüllte uns wieder ein.
Eine Auseinandersetzung aber werde ich nie vergessen, denn nachdem Dad aus dem Raum geflohen war, blieb Mam weinend auf dem Fußboden liegen. Sie rang die Hände, stöhnte, und ich spürte, wie der Kummer sie übermannte: Sie wirkte so einsam, so verwirrt und verzweifelt. Ich hätte sie gerne beruhigt und wünschte, ich könnte mich aus meinem Rollstuhl erheben und diesen Panzer von Körper abstreifen, der so viel Leid verursacht hatte.
Mam schaute zu mir hoch. In ihren Augen standen Tränen. »Du musst sterben«, sagte sie langsam und schaute mich dabei weiter an. »Du musst sterben.«
Der Rest der Welt schien weit weg zu sein, als sie diese Worte sprach, und ich starrte blicklos vor mich hin. Sie stand auf und ließ mich in dem totenstillen Raum zurück. An diesem Tag hätte ich gerne getan, worum sie mich gebeten hatte. Ich hatte das Verlangen, von meinem Leben zu lassen, denn diese Worte zu hören war mehr, als ich ertragen konnte.
Im Laufe der Zeit entwickelte ich Verständnis für die Verzweiflung meiner Mutter, denn während meines Aufenthalts im Pflegeheim hörte ich andere Eltern reden, und ich erfuhr, dass viele sich genauso ausweglos fühlten wie sie. Nach und nach begriff ich, weshalb es für meine Mutter brutal war, mit einer grausamen Parodie des einst gesunden Kindes zu leben, das sie so sehr geliebt hatte. Jedes Mal, wenn sie mich anschaute, sah sie nur den Geisterjungen, der daraus geworden war.
Meine Mutter war gewiss nicht die Einzige, die derartige Gefühle von Finsternis und Verzweiflung hatte. Ein paar Jahre nach ihrer Äußerung in jener Nacht wurde regelmäßig ein kleiner Junge namens Mark ins Pflegeheim gebracht, und dessen Lernschwierigkeiten waren so gravierend, dass er künstlich ernährt werden musste, kein Geräusch von sich gab und nur noch eine kurze Lebenserwartung hatte. Ich bekam ihn nie zu Gesicht, da er den ganzen Tag in einer Krippe lag. Doch ich kannte die Stimme seiner Mutter. Ich lag zwar meist auf dem Boden, wenn sie mit Mark kam, doch ich konnte sie hören. So bekam ich eines Tages ein Gespräch mit, das sie mit Rina führte.
»Jeden Morgen gibt es einen Moment, wo ich aufwache und mich an nichts mehr erinnere«, sagte Marks Mutter. »Ich fühle mich innerlich total leicht, total frei. Dann bricht die Realität wieder über mich herein, und ich denke an Mark. Noch ein Tag, noch eine Woche, und ich frage mich, ob er leidet und wie lange er wohl noch leben wird. Aber ich stehe nicht auf, um sofort zu ihm zu gehen. Stattdessen liege ich da, schaue zu, wie das Licht durchs Fenster fällt, wie sich die Gardinen leise im Lufthauch bewegen, und jeden Morgen weiß ich, dass ich meinen ganzen Mut zusammennehmen muss, um in das Bettchen meines eigenen Sohns zu schauen.«
Marks Mutter kämpfte nicht mehr gegen das Schicksal an. Sie hatte die Unausweichlichkeit des Todes ihres Sohns akzeptiert und wartete jetzt jeden Morgen darauf, dass er eintrat. Sie war unsicher, wie sie sich fühlen würde, wenn es so weit war. Weder sie noch meine Mutter waren ein Monster, sie hatten lediglich Angst. Vor langem schon habe ich gelernt, Mams Fehlern zu vergeben. Doch wenn ich sie jetzt betrachte, wie sie sich Mühe gibt, die von mir gewünschte Farbe für das Gitter zu erraten und dabei vor Anstrengung die Stirn runzelt, habe ich meine Zweifel, ob sie sich selbst vergeben hat.
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