Als ich unsichtbar war
einen seltenen Vogel anschaut. Nie zuvor bin ich jemandem begegnet, der so stumm ist wie ich.
»Wollen wir dann mal?«, höre ich Mam fragen.
Sie schiebt mich in einen kleinen Hörsaal mit Pulten und Stühlen in geraden Reihen. Eine Frau steht am anderen Ende des Raums vor einer weißen Tafel und packt Papiere aus.
»Wo möchtest du sitzen?«, fragt Mam, und ich deute auf die hinterste Sitzreihe.
Nachdem wir uns dort niedergelassen haben, öffnet Mam den Reißverschluss meiner Laptoptasche. Das reinste Glockengeläut ertönt, als sie den Computer anschaltet, und die Frau an der Tafel schaut hoch. Sie ist mittleren Alters mit kurz geschnittenem grauen Haar, Brille und einem Schal um die Schultern. Sie lächelt mich an. Ich senke den Blick, weiß nicht, was ich tun soll. Ich war noch nie bei so etwas wie dem hier. Noch nie habe ich in einer Gruppe von Menschen gesessen, die Dinge lernen und diskutieren. Ich möchte nicht, dass sie Notiz von mir nehmen.
Mam und ich warten, während immer mehr Leute den Raum betreten und sich setzen. Sie unterhalten sich untereinander, begrüßen sich und lachen, bis schließlich alle sitzen und die Frau mit der Brille zu reden beginnt.
»Guten Morgen!«, sagt sie lächelnd. »Mein Name ist Diane Bryen, und ich arbeite an der Temple University in Philadelphia, wo ich ein Programm leite, das sich ACES nennt. Zielsetzung dieses Programms ist es, erwachsenen Benutzern von Kommunikationstechnologien dabei zu helfen, ihr Leben selbst zu bestimmen und zu meistern. Ich glaube, dies ist der richtige Weg, bei der Entwicklung neuer Stimmen behilflich zu sein und Klischees von Menschen mit Behinderung zu beseitigen.«
Die Stimme der Frau ist hell und energisch. Sie schaut sich aufmunternd im Raum um.
»Es besteht kein Zweifel, dass sich Menschen mit Behinderung signifikanten Barrieren gegenübersehen«, sagt sie. »Hindernissen hinsichtlich des Zugangs zu einer Ausbildung gleicher Qualität, Hindernissen bei der Erlangung von Familienförderung, sodass Kinder mithilfe dieser Zuwendungen aufgezogen werden können, Hindernissen beim Zugang zu erschwinglichen und barrierefreien Wohnungen, Hindernissen im gleichberechtigten Anspruch auf Gesundheitsfürsorge und Beschäftigung. Dies sind beständige Barrieren, denen man bei jeder Gruppe von Behinderten begegnet, doch worüber ich hier heute reden möchte, sind nicht die augenfälligsten Ungerechtigkeiten. Vielmehr möchte ich über all die anderen Einschränkungen sprechen, die den Menschen durch die Gesellschaft auferlegt werden, denn bei Behinderung geht es genauso um behindernde Grundhaltungen wie um physische, kognitive oder sensorische Einschränkungen. Wenn jemand keine Hoffnung in sich trägt, oder wenn vom ihm nicht erwartet wird, dass er etwas zustande bringt, dann wird er es nie schaffen.«
Ich schaue Dr. Bryen an. Noch nie habe ich jemanden so leidenschaftlich und überzeugt über Menschen wie mich reden hören.
»Ich bin davon überzeugt, wenn Menschen mit Behinderungen die Barrieren niederreißen wollen, denen sie ausgesetzt sind, dann müssen sie sich klarmachen, dass sie das Recht dazu haben, dass sie genauso wie jeder andere Ziele haben dürfen. Und um dorthin zu gelangen, müssen sie zu träumen wagen.«
Ich beobachte, wie Dr. Bryen ihren Blick durch den Raum wandern lässt.
»Der Mann, dem ich vor meinem Tod am liebsten begegnen würde, ist Nelson Mandela«, sagt sie. »Denn obgleich er so lange eingekerkert war, hatte er einen Traum, an dem er festhielt, selbst als er der Freiheit und ausreichender Nahrung beraubt war. Nelson Mandela hatte einen wahrlich wagemutigen Traum, und er verfolgte ihn, bis er ihn verwirklicht sah. Ich bin auch anderen Menschen mit Träumen begegnet. Einer der besten Chefs, denen ich jemals gedient habe, war ein Mann namens Bob Williams, der in der Politik arbeitete und zerebrale Kinderlähmung hatte. Er besaß aber auch einen tollen Job, einen Assistenzhund und eine Frau, die ihn sehr liebte. Er lebte das Leben, das er sich erträumt hatte, und ich habe noch viele andere Menschen getroffen, die wie er waren. So kenne ich zum Beispiel einen Musiker, dessen Traum es war, zu singen, und er programmierte sein Kommunikationsgerät so, dass es das Singen für ihn übernahm. Oder eine Dozentin an meiner Universität, die zerebrale Kinderlähmung hat und einen Beruf ausübt, den sie liebt. Auch ich persönlich habe einen geliebten Menschen seinen Traum wagen sehen, denn mein Bruder ist blind. Jeder
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