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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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murmeln hören, während sie in einem Raum auf und ab gingen. Ich habe Streitereien mitbekommen, bei denen die Leute Tatsachen zu Lügen verdrehten, um als Sieger hervorzugehen.
    Menschen offenbarten sich aber auch auf andere Weise: durch eine Berührung, die sanft und fürsorglich oder rau und gedankenlos war; durch Füße, die müde über den Boden schlurften, wenn sie den Raum betraten. War jemand ungeduldig, so stöhnte er, wenn er mich wusch oder fütterte; waren sie wütend, dann rissen sie mir die Kleider noch etwas gröber als üblich vom Leib. Glücksgefühle schossen aus ihnen hervor wie kleine elektrische Impulse, während Beklemmung und Ängstlichkeit Tausende verräterischer Anzeichen boten – vom Nägelkauen bis zum ständigen Zurückstreichen des Haars hinter die Ohren, um die innere Unruhe zu kaschieren.
    Trauer allerdings ist vermutlich am schwierigsten von allem zu verbergen, da Kummer eine Art hat, sich auch dann zu äußern, wenn die Leute glauben, ihn zurückzuhalten. Man braucht nur genau hinzuschauen, um die Anzeichen zu sehen, doch die meisten Menschen unterlassen es, und dies ist der Grund, weshalb sich am Ende so viele einsam fühlen. Ich glaube, dies war auch der Beweggrund für einige von ihnen, zu mir zu reden: Zu einer anderen lebenden Kreatur – wenn auch unbeseelt – zu sprechen war immer noch besser als zu gar keiner.
    Eine jener Personen, die sich mir anvertrauten, war Thelma, eine Pflegerin, die mich schon von Anfang an im Pflegeheim betreut hat. Oft saß sie mit mir und einigen anderen Kindern da, und wir warteten darauf, dass man uns abholte. Jeden Nachmittag lauschte ich, ob das weiße Gitter am Ende des Korridors endlich quietschend aufgestoßen wurde. Dann, wenn Schritte im Gang widerhallten, versuchte ich herauszufinden, wem sie gehörten: Das Klappern hoher Absätze bedeutete, dass Corinnes Mama gekommen war und sie abholte, schwere Militärstiefel verrieten mir, dass es Jorikas Vater war, und das weiche Abrollen von Papas Schuhen verwies auf den großen, aber stämmigen Mann, der er heute immer noch ist. Die Schuhe meiner Mutter verursachten fast gar kein Geräusch, abgesehen vom gedämpften Rauschen ihrer schnellen Schritte. Manchmal konnte ich jeden erraten, bevor ich ihn sah, an anderen Tagen lag ich völlig falsch damit.
    Jeden Nachmittag wurden die Kinder eins nach dem anderen abgeholt, und im ganzen Gebäude wurde es langsam still: Telefone klingelten nicht mehr, keine Menschenseele rührte sich. In meinen Ohren rauschte es, wenn die Klimaanlage ausgeschaltet wurde. Bald würden es nur noch Thelma und ich sein, die warteten, und ich war immer froh, wenn sie es war, denn sie wurde nicht wütend, wenn Papa mich erst so spät abholen kam.
    Eines Nachmittags saßen wir dort, und als im Radio ein bestimmtes, sehr melancholisches Lied gespielt wurde, starrte Thelma vor sich hin und lauschte ergriffen. Ich spürte, dass sie heute traurig war.
    »Ich vermisse ihn so sehr«, sagte sie plötzlich.
    Obwohl mein Kopf angewinkelt auf meiner Brust lag, konnte ich hören, dass sie leise weinte. Ich wusste, wovon sie sprach: Ihr Mann war gestorben. Ich hatte Mitarbeiter leise darüber reden hören.
    »Er war ein guter Mann«, flüsterte sie. »Die ganze Zeit muss ich an ihn denken, jeden Tag.«
    Neben mir knackte es, als Thelma ihr Gewicht auf dem Stuhl verlagerte. Sie schluchzte, und die Tränen flossen heftiger.
    »Immerfort sehe ich ihn, wie er da zum Schluss lag. Ich frage mich, ob er mitbekommen hat, was geschehen ist. Wie hat er sich gefühlt? Hatte er Angst oder Schmerzen? Habe ich genug für ihn getan? Das geht mir ständig durch den Kopf. Ich kann nicht aufhören, an ihn zu denken.«
    Sie schluchzte noch heftiger. »Wenn ich ihm doch nur häufiger und deutlicher gesagt hätte, dass ich ihn geliebt habe«, sagte sie. »Ich habe es nicht oft genug gesagt, und jetzt bekomme ich nie wieder eine Gelegenheit dazu. Ich werde es ihm nie mehr sagen können.«
    Thelma weinte noch weiter, während ich neben ihr saß. Ich spürte, wie es mir auf den Magen schlug. Sie war so eine nette Person, die solche Trauer nicht verdient hatte. Ich wollte, ich hätte ihr sagen können, dass sie eine gute Ehefrau gewesen war, denn ich war sicher, dass es stimmte.

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    22
Aus dem Kokon
    W ar es unvermeidlich, dass ich nach so vielen Jahren der Abgeschiedenheit Angst vor dem Alleinsein hatte? Nachdem ich einen Monat zuvor an dem Workshop im Kommunikations-Institut teilgenommen hatte, bin ich jetzt

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