Als ich unsichtbar war
wieder dort und beteilige mich an einem einwöchigen Kurs über augmentative und alternative Kommunikation, kurz AAC . Alle möglichen Interessenten, von Leuten wie ich, die AAC anwenden, bis hin zu Eltern, Dozenten und Therapeuten, die mit uns arbeiten, kommen ins Institut. Dieser besondere Kurs wird allerdings für Studenten abgehalten, die einen Abschluss in AAC machen wollen, und ich wurde von der Institutsdirektorin, Professor Alant, eingeladen, daran teilzunehmen. Mam hat mich jeden Tag begleitet, doch an diesem Morgen muss sie zu einem Computerladen, weil es Probleme mit einem meiner Schalter gibt. Das heißt, ich bin ganz allein hier.
Als ich mich in dem Raum mit all den Fremden umschaue, wird mir bewusst, dass ich mich nicht erinnern kann, jemals ohne ein Familienmitglied oder eine Pflegeperson in der Nähe gewesen zu sein. Ich verbrachte Jahre in erzwungener einsamer Gefangenschaft in mir selbst, doch physisch war ich bis jetzt nie allein. Ich kann mich nicht entsinnen, ein Kind gewesen zu sein, das sich immer weiter die Straße hinunter wagte, bis es schließlich den Mut aufbrachte, zum ersten Mal alleine um die Straßenecke zu gehen. Ich war nie ein Teenager, der seine ersten Schritte ins Erwachsenendasein und in die Unabhängigkeit unternahm, indem ich meinen Eltern die Stirn bot und die ganze Nacht wegblieb.
Ich bin eingeschüchtert. Was soll ich sagen? Was soll ich tun? Ich sitze in meinem Rollstuhl ganz hinten im Hörsaal und hoffe, nicht aufzufallen. Erleichtert seufze ich auf, als die erste Vorlesung beginnt. Dann kommt die Teepause. Ich weiß, dass mich jemand schieben muss, wenn ich auch etwas trinken will, dass jemand einen Strohhalm in eine Tasse tun und diese dann so nah an mich heranstellen muss, dass ich meinen Kopf hinabbeugen kann, um daraus zu trinken. Als eine Studentin fragt, ob ich auch komme, sage ich ihr daher, ich würde lieber bleiben, wo ich bin. Ich habe zu viel Angst, ihr Angebot anzunehmen. Ich möchte niemandem zur Last fallen oder mich Leuten aufdrängen, die ich nicht kenne.
Doch als ich da so in dem Raum sitze und zuschaue, wie die anderen der Reihe nach schwatzend und lachend hinausgehen, wird mir klar, dass meine Verweigerung sinnlos ist. Ich werde immer auf Hilfe angewiesen sein, um in der sogenannten realen Welt zurechtzukommen, um mich in ihr zu bewegen, Türen zu überwinden, zu essen, zu trinken und auf die Toilette zu gehen. Nichts von all dem kann ich alleine bewältigen, daher muss ich jemanden, der mir die Tür öffnen will, freundlich anlächeln; wenn mir jemand anbietet, mich eine Stufe hochzuziehen, muss ich dessen Hilfe annehmen, ob ich will oder nicht. Erst wenn ich zulasse, dass mir Fremde helfen, kann ich mich außerhalb des begrenzten Raums bewegen, in dem meine Eltern immer um mich herum sind und mir jeder vertraut ist. Wenn der Kokon, in dem ich so lange eingeschlossen und damit unsichtbar war, aufzubrechen beginnt, muss ich neue Wege einüben.
»Martin?«
Ich blicke hoch und sehe Michal, eine Sprachtherapeutin des Kommunikations-Instituts, der ich im letzten Monat beim Workshop begegnet bin.
»Soll ich dich in das andere Zimmer bringen, damit wir etwas trinken können?«, fragt sie.
Michal lächelt. Erleichterung durchströmt mich. Ich klicke ein einziges Symbol an: »Danke!«
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Ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann
Z uweilen bin ich ein Exot. Wie ein Papagei oder Affe. Fachleute interessieren sich für mich. Teilweise deshalb, weil ich beides bin, ein neuer Nutzer von AAC und ein junger Erwachsener, was einigermaßen ungewöhnlich ist. Die meisten Menschen, die mit AAC kommunizieren lernen, sind entweder Kinder, die mit Problemen wie zerebraler Kinderlähmung, Autismus oder genetischen Störungen geboren wurden, oder ältere Erwachsene, die ihre Stimme durch Krankheiten wie Schlaganfall oder Motor-Neurone-Erkrankung verloren haben. Leute wie ich, die ihre Stimme im mittleren Alter verlieren, sind eher die Ausnahme. Wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass ich in so kurzer Zeit dermaßen viel über Computerkommunikation gelernt habe, und noch viel bedeutsamer ist, dass ich mir Lesen und Schreiben selbst beibringe. Das ist wirklich neu, denn viele AAC -Nutzer bleiben lese- und schreibunkundig. Daher sind die Studenten gekommen, um am letzten Tag des Kurses zu hören, wie ich spreche.
»Mich auf mein neues Leben einzustellen war bisweilen eine große Herausforderung und beängstigend«, berichte ich ihnen. »Es gibt so viel, das ich
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