Als ich unsichtbar war
dem Ort herumlungert, wo ich so viele Jahre verbracht habe. Doch diesen Gedanken schiebe ich beiseite. Ich weigere mich, über die Vergangenheit nachzudenken, da ich jetzt eine Zukunft vor mir habe.
In dem Maße, wie ich meinen Körper immer mehr einsetze, wird er auch in winzigen Schritten kräftiger. An den Tagen, an denen ich nicht arbeite, bin ich zu Hause und übe an meinem Computer. Ich kann mich schon etwas stabiler halten, wenn ich aufrecht sitze. Meine Halsmuskeln sind kräftig genug, die meiste Zeit meine Kopfmaus zu benutzen, und ich fange bereits damit an, ein wenig das Touchpad meines Laptops zu bedienen, da vor allem meine rechte Hand immer sicherer wird. Die linke ist noch weitgehend unkontrollierbar, daher bin ich noch etwas davon entfernt, ein Schmetterling zu sein, doch langsam beginne ich, aus der Puppe zu schlüpfen.
Der einzige sichtbare Hinweis auf meine Vergangenheit ist das Lätzchen, das ich noch immer umgebunden habe, eine Altlast jener Tage, als ich so unkontrolliert auf meine Brust sabberte, dass ein Sprachtherapeut empfahl, meinen Mund mit Puderzucker zu füllen, um mich zum Schlucken zu zwingen. Im Prinzip brauche ich das Lätzchen nicht mehr, und meine Mutter möchte auch nicht, dass ich es trage, doch ich schaffe es nicht, mich ganz davon zu verabschieden. Vielleicht befürchte ich, meine magischen Kräfte zu verlieren, die ich so unerwartet erlangt habe, wenn ich sie zu sehr herausfordere, indem ich mein Lätzchen abnehme. Möglicherweise ist mein Widerstand, auf die Insignien meiner Babyjahre zu verzichten, aber auch der einzige mir verbliebene Akt der Rebellion – und ich versuche diesen voll auszukosten, während ich langsam begreife, was es heißt, selbst Entscheidungen zu treffen. Die Wahl, das Lätzchen jeden Tag zu tragen oder nicht, ist häufig die einzige Möglichkeit, selbst etwas zu bestimmen, und daher bestehe ich darauf, derjenige zu sein, der das entscheidet.
Jetzt, da ich im Auto sitze und auf meine Mutter warte, beobachte ich, wie Studenten vor mir die Straße rauf und runter gehen. Das Kommunikations-Institut ist Teil einer Universität, und ich träume davon, an einem Ort wie diesem zu studieren, da ich weiß, dass ich gerne eines Tages hauptberuflich mit Computern arbeiten würde. Ich habe sogar damit begonnen, Software für ein Unternehmen in Großbritannien zu testen. Ich benutze deren Kommunikationsprogramme auf meinem Computer, und gemeinsam haben Mam und ich gelegentlich Programmfehler in der Software gefunden. Die Produzenten schickten gewöhnlich E-Mails mit Problemlösungen an meine Mutter, doch nach und nach wurde ich es, mit dem sie kommunizierten. Als sie feststellten, wie gut ich mich mit ihren Systemen auskannte, baten sie mich, sie zu testen. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich so gut mit Computern zurechtkomme, und ich habe auch aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen. Es ist einfach, wie es ist: Es gibt Dinge, die ich ohne nachzudenken tue, und die Leute sind perplex.
Als mein Vater vor kurzem ins Büro kam, schaute er mich fragend an, während ich Akten alphabetisch in Ordner sortierte. »Woher weißt du, was wohin gehört?«, fragte er überrascht.
Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht. Ich kann immer noch nicht richtig lesen, doch ich hatte einfach den Buchstaben des Namens in der Akte mit dem Buchstaben auf dem Deckel des Ordners verglichen. Schließlich sind Buchstaben nichts anderes als Symbole: Ein ›A‹ sieht aus wie ein Mann, der seine Hände über dem Kopf faltet. ›M‹ ist die Spitze einer Gebirgskette, und ›S‹ ist eine gleitende Schlange.
Die Wagentür wird geöffnet, und Mam beugt sich zu mir herunter. »Bist du bereit?«
Sie stellt den Rollstuhl neben die Tür und hebt meine Beine aus dem Auto, bevor sie meine Arme mit ihren umfasst. Wir ziehen beide aneinander, dann stehe ich auf und lasse mich in den Stuhl fallen. Mam legt den Laptop auf meine Knie und schiebt mich zum Gebäude, wo die elektrischen Türen aufgleiten, die ich vor zwei Jahren zum ersten Mal gesehen habe. Eine Frau führt uns in einen Raum, in dem Kaffee serviert wird, und mein Blick wandert über eine Gruppe von Menschen, die dort stehen und sich miteinander unterhalten. Zwei von ihnen sind Männer, die zwar nicht im Rollstuhl sitzen, aber einen Kasten bei sich haben, der ein wenig an das Gerät erinnert, das Mam und Dad fast für mich gekauft hätten. Voller Neugier betrachte ich die beiden Männer, vielleicht wie ein Ornithologe, der sich
Weitere Kostenlose Bücher