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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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seine Gräueltat damit ›krönte‹, dass er das Geschlechtsorgan des Mädchens anzündete.
    »Was ist mit ihm?«, fragte Henk schließlich und zeigte auf mich.
    »Martin?«
    »Ja.«
    Arrietta erzählte ihm meine Geschichte, und Henk hörte ihr schweigend zu, bis sie geendet hatte.
    »Er ist der Bedauerlichste«, sagte er und schaute zu mir herüber.
    »Warum?«
    »Weil er nicht in diesem Zustand geboren wurde. Damals war er gesund, und dann mussten seine Eltern mit ansehen, wie ihr Kind litt. Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde.«
    Arrietta legte einen Arm um ihn, während sie mich anschauten. »Niemand von uns weiß, was wir aushalten können, bis wir dazu gezwungen werden«, sagte sie sanft.

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    29
Der Heiler
    N achdem ich einen Blick in Arriettas und Henks geheime Welt geworfen hatte, war ich auf der Suche nach Liebe, da ich erkannte, dass das, was ich gesehen hatte, ungewöhnlich war. Es entsprach so gar nicht dem, was ich gekannt hatte, und daher hoffte ich, einen weiteren Einblick zu gewinnen. Obwohl ich lange warten musste, sah ich die Liebe dann schließlich doch, als ich ungefähr neunzehn war.
    Es geschah, nachdem mein Vater eine dienstliche Besprechung mit einem Mann hatte, den er nicht kannte, und der Fremde wandte sich beim anschließenden gemeinsamen Essen an Dad.
    »Wie geht es Ihrem Sohn?«, fragte er.
    »Welchem?«, antwortete mein Vater überrascht.
    »Dem Jungen, der stirbt«, sagte der Mann.
    Wut überkam Dad, dass er nach dem intimsten Teil seiner familiären Privatsphäre befragt wurde. Doch irgendetwas an dem Mann weckte seine Neugierde, und abends hörte ich, wie er meiner Mutter von dem Gespräch berichtete.
    »Er möchte Martin sehen«, sagte Dad. »Er ist Wunderheiler und glaubt, ihn behandeln zu können.«
    Meine Mutter sah keinen Grund, es nicht zu erlauben, da sie schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen war, das Rätsel meiner Krankheit könne niemals durch die klassische Schulmedizin gelöst werden. Deshalb brachte mich Dad zu einem Haus in einem Vorort, wo uns ein kleiner grauhaariger Mann mit Bart erwartete.
    Der Mann sagte mir, sein Name sei Dave, und ich wusste sofort, dass er nett war: Seine Augen waren voller Glanz, als er mich anschaute. Ich wurde aus meinem Rollstuhl gehoben und auf ein Bett gelegt. Dann verfiel Dave in totale Stille, schloss die Augen und ließ seine Hände ein paar Zentimeter über meiner Brust schweben. Danach begann er, sie über meinem Körper auf und ab wandern zu lassen, wobei er den Umrissen meiner verkümmerten Gestalt folgte, ohne sie jemals zu berühren. Ich spürte, wie meine Haut unter Hitzewellen zu prickeln anfing.
    »Die Aura Ihres Sohns ist zerstört«, sagte Dave meinem Vater. »Das kommt selten vor, aber es geschieht, wenn sich etwas Traumatisches ereignet hat.«
    Dave verfiel wieder in Schweigen und sprach nur noch ein einziges Mal während der nächsten Stunde, um meinem Vater zu sagen, dass er glaube, ich habe Magenprobleme, da er dort Schmerzen spüren könne. Ich verstand nicht, wie er das wissen konnte, wo es doch keiner der Ärzte festgestellt hatte, und es erschreckte mich. Doch Dave sagte danach nichts mehr, sondern blieb stumm und setzte seine Arbeit fort.
    »Darf ich Ihnen etwas für die Zeit bezahlen, die Sie uns geschenkt haben?«, fragte mein Vater, nachdem Dave fertig war.
    »Nein«, erwiderte Dave. Er nahm keinen Cent von meinen Eltern, obwohl er mich drei Jahre lang jede Woche behandelte. Es war, als habe Dave eine Berufung, mich zu therapieren, einen so starken Glauben, dass er dem folgen musste.
    Jedes Mal, wenn ich ihn sah, legte sich ein Ausdruck totaler Konzentration auf sein Gesicht, sobald er versuchte, das tiefe Reservoir selbstheilender Energie an die Oberfläche zu holen, von der er glaubte, dass ich sie in mir trüge. Mit den Händen über meinen Körper und die ihn umgebende Luft fahrend, machte er sich ein Bild von der Aura, die durch meine Krankheit beschädigt war, wie er zu fühlen glaubte. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, friedlich und entspannt. Seine Augen waren die ganze Zeit geschlossen, wenn er sich auf meine Heilung konzentrierte. Nach der Behandlung wurden seine Züge wieder so lebhaft wie immer.
    Monate wurden zu Jahren, und soweit die Menschen aus meiner Umgebung wissen, hatte sich an meinem Zustand nichts geändert. Doch Daves Glaube war unerschütterlich. Er sah mich Woche für Woche, um seine Hände mit dem intensivsten Ausdruck von Frieden und Konzentration über mir schweben

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