Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
Vom Netzwerk:
verschwand in der Menge. Ich überlegte, ob sie wohl den Weg zu mir zurückfinden würde oder ob jemand anderes mich ansprechen würde. Meine Alphabetvorlage lag einsatzbereit für eine Unterhaltung auf meinem Schoß, doch ich war mir nicht sicher, ob mich überhaupt jemand dort unten sitzen sehen würde, denn der Raum war total bevölkert. Dann fand mich das Mädchen, das jetzt über mir steht.
    »Welches Sternzeichen bist du?«, fragt es und beugt sich zu mir herunter.
    Es trägt ein goldenes Gewand und Schmetterlingsflügel auf dem Kopf. Es hat dunkles Haar und einen Mund voller großer weißer Zähne. Es ist hübsch und hat schöne Augen.
    » S - C - O - R - R - P - Y - O - N - N «, buchstabiere ich auf meinem Alphabet.
    »Scotch?«
    » S - C - O - R - P - Y …«
    »Ach so! Meinst du Skorpion?«
    Ich nicke. Mit dem Buchstabieren habe ich immer noch große Probleme. Die Leute müssen um die Ecke denken, wenn sie sich mit mir unterhalten wollen.
    »Das ist nicht gut«, sagt das Mädchen. »Ich bin Jungfrau.«
    Es lacht, und ich bin verwirrt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das Mädchen ist betrunken. Warum will es mit mir über Astrologie reden? Oder ist es nur ein verdeckter Hinweis, dass ich es zu einem Rendezvous auffordern soll? Ich weiß nichts darüber, wie Männer und Frauen miteinander umgehen. Alles, was ich gesehen habe, war in Filmen im Fernsehen oder in heimlichen Beobachtungen anderer Leute. Doch langsam komme ich dahinter, dass das Flirten mit einer Frau so etwas wie der Gebrauch einer Sprache ist, von der ich kaum weiß, dass sie existiert, geschweige denn, dass ich mich ihrer bedienen könnte. Flirtet diese Frau hier vor mir, wie sie es versprochen hat?
    Natürlich stehen mir die Wörter zur Verfügung, um mit Frauen zu reden, die verbalen Mechanismen für Sex und Beziehungen, die Mam und ich in meine Wortgitter eingegeben haben. Es war unausweichlich, dass wir zu einem Thema kommen würden, das nur einen kleinen Schritt von Wörtern wie ›umarmen‹ oder ›küssen‹ entfernt ist. Und selbst wenn es meine Mutter war, die mir das neue Vokabular vermitteln musste, war mir dennoch klar, dass ich es haben wollte, denn Sex interessiert mich genauso stark wie jeden anderen Mann von knapp über zwanzig. Vielleicht glauben die Leute, jemand wie ich sei diesbezüglich gefühllos, doch da irren sie!
    Ziemlich zu Beginn meines Wiedererwachens pflegte ich an den Wochenenden die Zeit immer herunterzuzählen, bis im Fernsehen eine französische Serie lief, denn ich wusste, dass dann Frauen mit so engem Korsett gezeigt wurden, dass deren Brüste überschwappten. Da spürte ich dann Gefühle, die ich zuvor nicht gekannt hatte, und ich genoss sie. Mein sexuelles Bewusstsein vermittelte mir, dass ich nicht völlig tot war. Seit ich zu kommunizieren lerne, habe ich häufiger darüber nachgedacht, und ich beginne zu hoffen, eines Tages vielleicht doch einmal eine Frau kennenzulernen, die mit mir zusammen sein möchte.
    »Womit sollen wir anfangen?«, fragte meine Mutter mit ihrer entschlossensten Stimme, als wir vor dem Computer saßen, um das neue Wortgitter anzugehen. »Erektion?«
    Das zumindest brauchte sie mir nicht zu erklären. Ich hatte sie wie jeder andere auch.
    »Vagina.«
    Auch dafür brauchte ich keine Beschreibung. Die meisten Wörter zu diesem Thema hatte ich inzwischen nebenbei aufgeschnappt.
    Doch ich hätte schwören können, dass Mams Stimme immer lauter wurde, und ich betete, David bekäme nicht mit, was wir hier machten.
    »Orgasmus«, rief Mam.
    »Ejakulation.«
    »Sperma.«
    Mein Gesicht wurde puterrot, als meine Mutter damit fortfuhr, Wörter aus dem Sexualvokabular zu intonieren. Mit jeder Sekunde wünschte ich mehr, sie möge endlich aufhören, so als wollte ich mich dagegen auflehnen, eine plötzlich unfreiwillige Geisel in ihrem Bemühen zu sein, mich völlig aufzuklären. Erst als Mam schließlich beschloss, genug sei genug, konnte ich sie bitten, das Gitter irgendwo ganz unten zwischen den anderen zu verstecken, wo nur ich es finden würde.
    Damals hatte ich schon vermutet, ich würde es wohl nicht sonderlich oft gebrauchen, und jetzt, als das Mädchen vor mir steht, wird mir klar, dass ich es wirklich nicht brauche. Im Gespräch mit Frauen geht es wohl mehr darum, zu verstehen, was zwischen den Zeilen geäußert wird, als die Worte selbst. Es kommt darauf an, die stummen Signale zu deuten, die so viel besagen. Doch ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Erwartet das

Weitere Kostenlose Bücher