Als ich unsichtbar war
Leben gekettet war, selbst zu Zeiten, als ich es nicht gewollt hatte, und dass jetzt Dave, der sein Leben so geliebt hatte, seins verloren hatte. Dann dachte ich an Ingrid und die Liebe, die durch eine Kugel ausgelöscht worden war. Ich verstand immer noch nicht ganz, was ich vor so vielen Monaten zwischen ihr und Dave gesehen hatte, doch instinktiv wusste ich, dass ihr Kummer nach diesem Verlust schier unerträglich sein musste.
Die Männer wurden nie gefasst.
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30
Dem Käfig entrinnen
W enn ich das Kommunizieren lerne, dann ist das vergleichbar mit einer Fahrt auf einer Straße, bei der man plötzlich feststellt, dass die Brücke, die man zum Überqueren eines Flusses braucht, weggespült worden ist. Obwohl sich in meinen Gittern jetzt Tausende Wörter befinden, gibt es immer noch welche, die ich zwar denke, aber nicht im Gitter erfasst habe. Und wenn ich sie erfasst habe, wie nehme ich dann einen Gedanken und setze ihn in Symbole um, oder wie fange ich auf dem Bildschirm ein Gefühl ein? Sprechen beinhaltet so viel mehr als nur Wörter, und es ist fast unmöglich für mich, das Auf und Ab, den Rhythmus der Nuancen zu meistern.
Man denke nur an den Mann im Restaurant, der eine Augenbraue hochzieht, als ihm der Ober die Rechnung für das Jubiläumsessen überreicht, das er gerade mit seiner Frau genossen hat.
»Das soll doch wohl ein Scherz sein!«, sagt er, nachdem er einen Blick darauf geworfen hat.
Seine Frau hört ihm zu, und aus der Tonlage und seinem Gesichtsausdruck liest sie ab, ob seine Bemerkung ein Vorwurf ist, weil er die hohe Ausgabe bereut, oder eine lieb gemeinte Frotzelei gegenüber der Frau, für die er seinen letzten Cent opfern würde.
Doch ich kann Silben nicht zornig ausspucken oder sie begeistert herausschreien. Meine Wörter werden niemals gefühlvoll tremolieren, für einen Lacher erwartungsvoll an Lautstärke gewinnen, um den Effekt der Pointe zu erhöhen, oder in eine tiefere, bedrohliche Tonlage absinken, wenn ich stinksauer bin. Stattdessen bringt meine elektronische Stimme jedes Wort in einer einzigen monotonen Tonlage hervor.
Neben der Tonlage sind es die Lücken, die ein Gespräch mit mir erschweren.
Ich habe Stunden mit Tagträumen verbracht, in denen ich mir ausmalte, was ich alles sagen würde, wenn ich es könnte, und ich führte endlose Konversationen in meinem Kopf. Doch jetzt, da ich endlich reden kann, habe ich nicht immer die Möglichkeit, zu sagen, was ich gerne möchte. Eine Unterhaltung mit mir verläuft langsam, erfordert Zeit und eine Geduld, die viele nicht aufbringen. Die Person, mit der ich rede, muss sich setzen und warten, während ich Symbole in meinen Computer eingebe oder auf Buchstaben in meiner Alphabetvorlage zeige. Das Schweigen ist für viele so belastend, dass sie häufig lieber auf ein Gespräch mit mir verzichten.
Inzwischen arbeite ich seit mehr als sechs Monaten; ich habe Freunde und Kollegen; ich treffe Fremde, wenn ich in die Welt hinausgehe; und mit allen interagiere ich. Dabei habe ich gelernt, dass sich die Stimmen der Leute in einem nahtlosen Kreis bewegen, Sätze ineinandergreifen, während man sich unterhält. Doch ich unterbreche den Rhythmus und bringe das Gespräch durcheinander. Mein Gegenüber muss sich ganz bewusst Mühe geben, mich anzuschauen und genau hinzuhören, was ich zu sagen habe. Man muss mir den Raum, die Lücke lassen, mich zu äußern, da ich nicht dazwischenplatzen kann, doch viele wollen die Stille nicht hören, die ich schaffe. Das verstehe ich, denn wir leben in einer Welt, in der wir selten gar nichts vernehmen. Gewöhnlich läuft der Fernseher oder das Radio, das Telefon oder Autohupen stopfen die Löcher, und wenn es das nicht gibt, übt man sich eben in inhaltsleerem Small Talk. Doch ein Gespräch mit mir findet nicht nur über Worte, sondern auch über Schweigen und Stille statt, und ich registriere, ob man meinen Wörtern zuhört oder nicht, denn ich wähle jedes einzelne äußerst sorgfältig aus.
Ich bin längst nicht so gesprächig, wie ich es mir in meinen Tagträumen ausgemalt habe. Wenn sich meine Familie beim Abendessen unterhält, oder wenn sich Kollegen austauschen, was sie am Wochenende gemacht haben, werde ich manchmal nicht mit einbezogen. Die anderen verhalten sich nicht bewusst rücksichtslos, sie denken einfach nicht daran, eine Pause zu machen und mir Gelegenheit zum Sprechen zu geben. Sie vermuten, ich nähme an ihrem Gespräch teil, da ich mich ja im selben Raum befinde, doch damit
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