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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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Mädchen, von mir geküsst zu werden? Und wenn dem so ist, was soll ich dann tun? Will es, dass ich auf es zugehe, oder muss ich hier sitzen und warten, bis es mich küsst? Und falls es das tut, wie soll ich dann küssen? Ich habe doch noch nie jemanden geküsst. Die Fragenliste in meinem Gehirn wird immer länger, bis ich mich fast verheddere, wie ein Computer, der abstürzt, wenn ihm zu viel zugemutet wird.
    »Weißt du, dass Skorpion und Jungfrau nicht kompatibel sind?«, fragt das Mädchen plötzlich.
    Ich weiß wirklich nicht, wovon das Mädchen redet. Ich beschließe, das Thema zu wechseln. »Was studierst du?«, buchstabiere ich in meinem Alphabet.
    »Volkswirtschaft.«
    Ich bin mir nicht sicher, wie Volkswirtschaftsstudentinnen aussehen, aber ich glaube nicht, dass sie für gewöhnlich Schmetterlingsflügel auf dem Kopf tragen. Ich schweige und überlege, was ich sagen könnte, während das Mädchen vor mir herumtorkelt.
    »Ich geh mal rüber zu meinen Freunden«, sagt es plötzlich. »Tschüss!«
    Es taumelt quer durch den Raum, und ich bin wieder allein. Es ist zu schwierig, sich mit mir zu unterhalten. Ob ich es wohl noch lerne? Mein Blick wandert durch die Menge, und ich sehe, wie die Leute tanzen und miteinander reden, wie sie über die Scherze der anderen lachen und sich aufeinander zu bewegen. Ein Pärchen küsst sich, und ein Mann hat seinen Arm um die Schultern von einem Mädchen gelegt. Ich frage mich, ob ich jemals den Code beherrschen werde, der mir den Zugang zu deren Welt erlaubt.
    »Alles in Ordnung?«
    Es ist Erica. Zumindest mit ihr ist alles einfach, da wir beide wissen, dass zwischen uns nichts außer Freundschaft ist. Erica nimmt einen besonderen Platz in meinem Herzen ein, denn in den vergangenen drei Monaten hat sie mir so viel von dem gezeigt, was die Welt zu bieten hat.
    Bevor wir uns kennenlernten, unternahmen meine Eltern mit mir Dinge wie einkaufen oder ins Kino gehen. Für mich war es ein Ereignis, das ich nie vergessen werde, als in dieser Welt des Zwielichts die Leute nach oben starrten, die Musik einsetzte und über mir Gesichter von der Größe eines Wolkenkratzers auf der Leinwand erschienen. Ich konnte kaum glauben, dass dies hier Realität war. Warum aber wirkten die Mienen der ganzen Leute um mich herum fast ausdruckslos? Ich bemerkte weder Faszination noch Entzücken in ihren Gesichtern, und ich fragte mich, ob man sich so sehr an ein Vergnügen gewöhnen konnte, dass man es gar nicht mehr wahrnahm.
    Doch mit Erica habe ich gesehen, wie Menschen meiner Altersgruppe leben. Ich habe das Erlebnis genossen, bei McDonald’s Hamburger zu essen, einen Nachmittag durch ein Einkaufszentrum zu spazieren oder Plätzchen zu naschen, die Erica gerade im Ofen gebacken hatte. Wir haben Botanische Gärten und ein Waisenhaus besucht, wo wir Babys knuddelten, die ohne die Gunst einer menschlichen Berührung sterben würden. Ich kenne dieses Gefühl nur allzu gut.
    All dies versetzt mich in Erstaunen, und Erica scheint es Spaß zu machen, mir alles zu zeigen. Sie ist ein außergewöhnlicher Mensch – die erste Person außer meiner Familie und jenen, die für meine Pflege bezahlt wurden, die meine physischen Beschränkungen ohne Wenn und Aber akzeptiert. Bei Erica weiß ich, dass dieses Handicap mich nur teilweise abgrenzt, nicht insgesamt, und sie behandelt mich wie jeden anderen Freund. Nie hat sie auch nur ein einziges Wort darüber verloren oder mir durch einen Blick das Gefühl vermittelt, ich sei eine Last, für die sie sich schämen müsse. Selbst als ich in ihrer Wohnung geblieben bin und sie mich auf die Toilette setzen und wieder hochheben oder mich anziehen musste, hat sie es ohne Umstände getan. Pflege, die nur widerwillig geleistet wird, ist leicht zu erkennen, doch bei Erica ist das kein Thema. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich bei ihr so ruhig schlafen kann, wenn ich bei ihr übernachte, eine ganze kostbare Nacht ohne meine Albträume.
    »Machen wir uns auf?«, fragt Erica.
    Wir verlassen die Party mit David und Yvette und überqueren die Straße zu Ericas Wohnung. Als wir die Treppe zu ihrem Apartment erreichen, heben mich David und Erica aus dem Rollstuhl und stützen mich, während ich die Treppe Stufe für Stufe hinaufschlurfe. Ich lache, als sich die anderen darüber unterhalten, wer was wo und mit wem gemacht hat. Wie schön wäre es, wenn ich verstehen würde, was das alles bedeutet.
    »Tut mir leid, wenn das als erste Party nicht gerade eine Offenbarung

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