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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pistorius Martin
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und ihre Haut berühre.
    Das Einzige, was wir nicht machen, ist miteinander schlafen. Wir einigten uns vor meiner Ankunft, damit zu warten, denn schließlich bleibt uns noch der ganze Rest unseres Lebens. Ich habe es nicht vorgeschlagen, doch Joanna und ich wissen, dass wir heiraten werden. Wir haben sogar vor meinem Kommen darüber diskutiert, und wir sind uns einig, dass ich nach England ziehen werde, damit wir hier ein gemeinsames Leben beginnen können. Es erstaunt mich, wie leicht wir solche Entscheidungen treffen können; es ist, als seien wir jeweils die Fortsetzung oder Ergänzung des anderen. Ich genieße diese Unkompliziertheit nach einem Leben, in dem selbst die irrelevantesten Dinge problematisch werden können. Miteinander zu schlafen wird das letzte Teilchen in unserem Puzzle sein. Wir heben es uns für unsere Hochzeitsnacht auf.
    Im Moment ist es so, als heile Joanna alles, was sich in mir seit langem aufgestaut hat, indem wir Tag für Tag mehr über uns erfahren. Ich bin an Menschen gewöhnt, die mich zu Dingen drängen oder von mir erwarten, passiv herumzusitzen, während sie alles für mich erledigen. Joanna hingegen akzeptiert mich so, wie ich heute bin, und trauert nicht dem nach, was ich einst war. Am meisten überrascht mich allerdings, dass sie an meiner Rehabilitation kaum interessiert zu sein scheint. Sie drängt mich nicht, irgendwelche Dinge zu tun, und sie zieht auch keine Augenbraue hoch, wenn ich etwas nicht kann. Ihr ist es sogar egal, dass ich nur meine Alphabettafel bei mir habe, weil es zu unpraktisch gewesen wäre, meinen alten Laptop mitzunehmen. Meine ›Stimme‹ will sie gar nicht hören. Und sie wacht auch nicht ständig über mich wie eine Mutter, die nur darauf wartet, ihr krabbelndes Baby aufheben zu müssen. Stattdessen hilft sie mir lediglich, wenn ich es wirklich brauche. Sie traut mir zu, meinen Körper selbst einschätzen zu können, und dabei akzeptiert sie, dass dieser an manchen Tagen mehr zu leisten in der Lage ist als an anderen.
    »Nicht du bist es, der das nicht schafft, sondern deine Hände«, sagte sie mir eines Tages, als ich völlig frustriert damit kämpfte, einen Pullover anzuziehen. »Du solltest ihnen mal ein bisschen Ruhe gönnen und es dann später noch mal probieren.«
    Selbst versehentliche Fehler, die ihr manchmal unterlaufen, versetzen sie nicht in Panik und bringen sie auch nicht in Verlegenheit, wie das bei so vielen anderen der Fall wäre.
    »Mein Liefie!«, rief sie, als sie eines Morgens ins Schlafzimmer kam und mich ausgestreckt auf dem Bett liegen sah.
    Sie war gegangen, als ich mich gerade anziehen wollte, beim Überstreifen des Pullovers hatte ich aber das Gleichgewicht verloren und war wie eine gefällte Eiche umgekippt.
    »Alles in Ordnung?«, kicherte Joanna, während sie mich aufrichtete. »Da muss ich nächstes Mal wohl aufpassen, dass ich dich besser abstütze.«
    Sie entschuldigte sich nicht, sie war nicht verlegen oder aufgeregt, sie hatte auch kein schlechtes Gewissen, weil sie irgendetwas falsch gemacht haben könnte, und ihre Unkompliziertheit tat mir gut. Stattdessen lachte sie nur, gab mir einen Kuss und verließ das Zimmer, sodass ich mich weiter anziehen konnte.
    Wenn sie etwas anmerken will, tut sie es sehr sachlich, wie vor ein paar Tagen, als ich mich hinabbeugte, um meinen Kaffeebecher bis zur bitteren Neige zu leeren, wie ich es immer tue.
    »Ich verstehe nicht, weshalb du immer so schnell trinkst und isst«, sagte Joanna. »Das wirkt, als hättest du es unglaublich eilig.«
    Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was sie meinte. Ich habe nie langsam gegessen oder getrunken. Früher hatte es sich stets um hastige Tätigkeiten gehandelt, bei denen es den Leuten lediglich darum ging, meinen Körper mit Nachschub zu versorgen und mich dann möglichst schnell wieder loszuwerden, denn sie vergeudeten ja wertvolle Zeit damit, mir zu helfen. Essen oder Trinken zu schmecken und zu genießen ist mir ganz selten in den Sinn gekommen. An diesem Abend reichte mir Joanna meinen ersten Löffel mit Crème Caramel, und ich zwang mich, sie langsam genug zu essen, um sie auch schmecken zu können. Als Erstes war da etwas Süßes, dann kam eine geheimnisvolle Vielfalt des gebrannten Zuckers, der über meine Zunge floss, gefolgt von einer leicht bitteren Komponente, und zum Schluss spürte ich den reichhaltigen Geschmack der Crème mit einem Anflug von Vanille.
    »Das scheint dir aber geschmeckt zu haben«, sagte Joanna.
    Sie erzählte mir,

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