Als ich vom Himmel fiel
María. Hier wurde der Zustand der Straße immer erbärmlicher, und das besserte sich auch nicht, als es anfing, wie aus Kübeln zu regnen. Irgendwann war dann Schluss mit der Weiterfahrt, denn eine im Schlamm eingesunkene Straßenbaumaschine versperrte den Weg. Wir waren nicht die Einzigen, hinter uns stauten sich noch mehr Lastwagen, und es blieb uns allen nichts anderes übrig, als einfach stehen zu bleiben und an Ort und Stelle die Nacht zu verbringen. Ich erinnere mich noch gut, wie besorgt meine Eltern waren, denn durch den anhaltenden Regen konnte es leicht zu Erdrutschen kommen, sodass wir befürchten mussten, entweder selbst mitsamt der Straße den Berg hinabzurutschen oder eine Erdlawine aufs Dach zu bekommen. Zum Glück geschah weder das eine noch das andere, und am nächsten Morgen gelang es, die Straßenbaumaschine aus dem Schlamm zu ziehe n – der Weg war wieder frei. Wir schafften es an diesem Tag bis kurz vor Pucallpa und befanden uns somit schon mitten im Regenwald. Von hier nach Tournavista war es eine weitere Tagesetappe, und hier hatte unsere Reise ein vorläufiges Ende.
In Tournavista, einem Dorf, das wie schon erwähnt zu einer großen Viehzucht gehörte, wurde uns von der freundlichen Gemeinde ein großer Raum in einer ehemaligen Schule zur Verfügung gestellt, an dessen Wand wir unsere Kisten bis zur Decke aufstapelten. Hier blieben wir rund einen Monat, meine Eltern erledigten noch letzte Arbeiten an ihren Büchern und planten dann, wie es weitergehen sollte.
Denn wo genau wir im Urwald wohnen wollten, das war noch gar nicht klar. Meine Eltern hatten von einem Fleck am Ufer des Yuyapichis gehört, wo ein paar verfallene Hütten stehen sollten, und die wollte sich mein Vater mal ansehen. Meine Mutter und ich blieben in Tournavista zurück, während er zu seiner wichtigen Mission aufbrach, nämlich den passenden Ort für unser neues Zuhause zu finden.
Am Ufer des Río Pachitea auf der Höhe der Mündung des kleineren Flusses Yuyapichis fragte er nach einem Boot und zwei tüchtigen Männern, die ihn die Flüsse hinauf und hinunter rudern könnten. Und so fand er Moro.
Moro heißt eigentlich Carlos Aquiles Vásquez Módena, aber keiner nennt ihn so, alle sagten schon immer Moro zu ihm. Es sollte sich als eine glückliche Fügung erweisen, dass er so früh schon die Wege meines Vaters kreuzte, denn inzwischen ist Moro der Herzschlag von Panguana, ohne den es die Forschungsstation heute nicht mehr gäbe. Damals fuhren Moro, gerade mal 2 0 Jahre alt, und sein Freund Nelson meinen Vater in einem Boot auf mehreren Flüssen herum, die zum Einzugsgebiet des Amazonas gehören. Es sind kleine und große Wasserläufe, die sich in weiten Bögen durch den Dschungel ziehen. Wer sich nicht auskennt, ist in kurzer Zeit hoffnungslos verloren. Zu jener Zeit gab es auf den schmäleren Flüssen noch keine Boote mit Außenbordmotor, und man war auf Stakstange und Paddel angewiesen, um flussaufwärts und über die Stromschnellen zu gelangen. Moro und sein Freund brachten meinen Vater bis zur Mündung des Río Negro am Oberlauf des Yuyapichis. Sie hielten Ausschau nach einer unberührten Gegend, die per Boot zu erreichen war. Bei Purma Alta gingen sie an Land und marschierten flussabwärts, bis sie auf ein paar Indianerhütten stieße n – es waren die Gebäude, von denen meine Eltern schon gehört hatten. Abgesehen von vier Panguana-Steißhühnern, die im Schatten der Hütten im Staub badeten, schien der Platz verlassen zu sein. Da sagte mein Vater: »Das ist der richtige Ort!« Ein Name war auch schnell zur Hand: Panguan a – nach den Steißhühnern. Vater und Moro erkundeten den Wald, und was sie fanden, gefiel ihnen: Das Habitat wimmelte nur so von Tieren, vor allem Vögeln, Schmetterlingen und anderen Insekten. Man kann sagen, es war ein wahr gewordener Traum für jeden ernsthaften Forscher. Aufgrund der Strapazen des langen Marsches nach Peru litt mein Vater zu dieser Zeit ständig an Rückenschmerzen. Als Moro es bemerkte, bot er sich an, dabei zu helfen, das Gepäck von Tournavista hierherzubringen. Natürlich war mein Vater damit einverstanden. So kam es, dass Moro und seine Familie einen wichtigen Platz in unserem Leben einnehmen sollten.
In Tournavista wartete ich gemeinsam mit meiner Mutter gespannt darauf, welche Neuigkeiten uns mein Vater von seiner Erkundungstour durch den Dschungel bringen würde. Wo würde ich die nächsten Jahre verbringen? In welche Einöde verschleppten mich meine Eltern?
Weitere Kostenlose Bücher