Als ich vom Himmel fiel
in Panguana, weit entfernt im Urwald, und selbst dort war es noch so deutlich zu spüren, dass die Vögel erschreckt von den Bäumen aufflogen. Zehn Jahre später sollte ich mit Kommilitonen in diese Gegend fahren, und noch immer war einer der Orte vollständig verschüttet.
Wir verabschieden uns von Alwin, der es offensichtlich bereut, mich an die Gefahren eines Bebens in Lima erinnert zu haben. Kurze Zeit später sehe ich im Hotel die vertrauten Hinweisschilder, die die Stellen angeben, wo man sich im Falle eines Erdstoßes aufhalten sollte. Wer in Peru lebt, für den wird auch dieses Phänomen zu einem Teil des Alltags.
Auch ich bin mit der Tatsache aufgewachsen, dass nichts wirklich sicher ist, auch nicht der feste Boden unter den eigenen Füßen. Und ich finde, dieses Wissen hilft mir immer wieder, selbst in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Vielleicht habe ich auch deswegen diesen Alptraum nach dem Flugzeugabsturz überlebt, weil ich es von klein auf gewöhnt war, dass ungewöhnliche Dinge geschehen können. Sei es, dass in der Großstadt Lima eine giftige Schlange durch den Garten kriecht oder man mitten in der Nacht aufwacht und das Bett wackelt, als rüttelten böse Geister an ihm.
Das ist heute Nacht zum Glück nicht der Fall. Müde fallen wir in unsere Kissen. Wie glücklich bin ich, wieder hier zu sein. Und dennoch möchte ich nicht immer hier leben. Ich genieße es, in beiden Welten zuhause zu sein, auch wenn es mitunter anstrengend ist und mich die Sehnsucht nach dem Land, in dem ich gerade nicht bin, manchmal fast zerreißt.
Doch all das wird durch die Möglichkeit aufgewogen, ständig den eigenen Horizont zu erweitern. Damit meine ich nicht nur den Erfahrungsschatz. Nein, ich spreche vom inneren, emotionalen Horizont. Ich war schon immer ein Mensch, der lieber aus erster Hand seine Informationen sammelt. Und das geht nur vor Ort, im engen Kontakt mit Menschen, die dort leben. Ich glaube, das kommt auch meiner Arbeit in Deutschland zugute. Ich fühle mich privilegiert, in der Zoologischen Staatssammlung arbeiten zu dürfen. Ich schätze meine Kollege n – wir sind mehr als eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, wir sind wie eine Familie. Ich kann mit Fug und Recht sagen: Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Ist das nicht seltsam? Nach allem, was passiert ist? Wo ich doch eigentlich gar nicht mehr hier sein dürfte? Noch klingen mir die letzten Worte meiner Mutter im Ohr. Die Erinnerung überfällt mich überall, ohne Vorwarnung, im Flugzeug, im Aufzug, im Traum. Dann höre ich meine Mutter sagen: »Jetz t …
5 Wie ich zum Urwald-Mädchen wurde
Kapitelanfang
… ist alles aus!« Ruckartig fällt die Spitze des Flugzeugs steil nach unten. Obwohl ich ganz hinten auf einem Fensterplatz sitze, kann ich den gesamten Gang bis vor zum Cockpit sehen, er liegt unter mir, die physikalischen Gesetze sind aufgehoben, es ist wie ein Erdbeben, nein, schlimmer. Denn jetzt rasen wir nach unten, wir fallen, die Menschen schreien in Panik, gellende Hilferufe, das Dröhnen der stürzenden Turbinen, das ich in meinen Träumen wieder und wieder hören werde, und da, über allem, klar wie Glas, die Stimme meiner Mutter: »Jetzt ist alles aus!«
Alles wäre anders gekommen, hätten meine Eltern nicht beschlossen, ihren Arbeitsplatz von der Großstadt Lima mitten in den Urwald zu verlegen. Sie wollten vor Ort die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt im Amazonas-Regenwald, die damals noch so gut wie unbekannt war, studieren. Fünf Jahre lang wollten sie in unmittelbarer Nähe zu ihrem Forschungsfeld leben. Und irgendwann wollten sie danach wieder nach Deutschland zurückkehren.
Ich war 14, als meine Eltern diesen Plan in die Tat umsetzten. Damals war ich gar nicht begeistert von der Idee, von nun an im Dschungel zu leben. Ich stellte mir vor, wie ich da den ganzen Tag in der Düsternis unter hohen Bäumen sitzen würde, deren dichtes Blätterdach keinen Sonnenstrahl durchließ. Wehmütig dachte ich daran, all meine Schulkameradinnen in Lima zurückzulassen. Die betrachteten mich mit mitleidigen Blicken, denn keine von ihnen konnte es sich vorstellen, mitten im Urwald zu leben. Die meisten hatten noch niemals einen Fuß dorthin gesetzt. Nicht, dass ich mich fürchtete, ich kannte den Dschungel bereits von Exkursionen, zu denen mich meine Eltern mitgenommen hatten. Doch Reisen dorthin zu unternehmen oder gleich mit Sack und Pack dort hinzuziehen, ist nicht dasselbe. Mit 1 4 Jahren hat man
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