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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Koepcke
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Frühstück, denn da war für einen Ornithologen am meisten los. Dies ist die Stunde der Ameisenvögel, die den Wanderameisen auf ihren Zügen durch das Land folgen, weil sie die Insekten fressen, die die Ameisen aufschrecken. Meine Eltern hatten überall Beobachtungspfade angelegt, die sie in mühevoller Sisyphusarbeit von Blättern frei hielten, damit wir geräuschlos darauf gehen konnten. Dabei lernte ich auch, wie man mit Meterstab und Kompass ein Wegesystem anlegt, wie man sich auch im dichten Urwald orientiert, Wasserscheiden bestimmt und alte Indianerpfade als Abkürzungen benutzt. Wie einst Theseus sich im Labyrinth mithilfe des Ariadnefadens zurechtfand, gewöhnte ich mir an, mit dem Buschmesser Markierungen in Bäume zu ritzen, um aus dem Urwald wieder heraus zu finden. Außerdem lernte ich, jeden Vogel allein an seiner Stimme zu erkennen. Mit einem für heutige Begriffe altertümlichen, damals jedoch topmodernen Tonbandgerät machten wir Aufnahmen, die später auf Tonkassetten übertragen wurden. Manchmal durfte ich den großen Parabolspiegel halten, der die Töne für das Mikrofon reflektierte und verstärkte. Mit ihm nahmen wir auch Insekten auf oder Froschrufe. Überhaupt ist das Froschkonzert im Urwald ein Erlebnis für die Sinne: Manchmal ist es so laut, dass man seine eigenen Worte nicht mehr versteht. Das ist im November, Dezember der Fall, wenn all die Frösche ihren Laich ablegen und Kaulquappen in riesigen Mengen schlüpfen. Die Tümpel schwellen an, scheinen ein eigenes Lebewesen zu sein. Und wenn der südamerikanische Ochsenfrosch, der Hualo, zu rufen beginnt, dann weiß jeder: Jetzt kommt die Regenzeit. Egal, was die Meteorologen voraussagen, der Hualo weiß es besser. Auf seinen Ruf kann man sich hundertprozentig verlassen. Natürlich gibt es auch Trockenzeitfrösche, die sich nur in dieser Jahreszeit vernehmen lassen. Diese Tiere haben ein Gespür für das, was kommt, und brauchen keine Wetterkarte.
    Hatte ich in Lima schon von klein auf meine eigenen Haustiere versorgt, so war es klar, dass wir auch im Urwald Zuwachs erhalten sollten. Gleich im ersten Jahr meines Aufenthalts in Panguana schenkten mir Nachbarn zwei ganz junge Stärlinge, die aus dem Nest gefallen waren. Ich nannte sie Pinxi und Punki und ernährte sie mit der Pipette. Die beiden lustigen Vögel wuchsen mir ans Herz, und ich war sehr traurig, als Pinxi eines Tages starb. Umso mehr freute ich mich, als ich zum Weihnachtsfest 1970 eine »neue Pinxi« bekam, wie ich überglücklich an meine Großmutter in Deutschland schrieb.
    Moro schenkte mir in dieser Zeit außerdem ein kleines Aguti, ein dem Meerschweinchen verwandtes, neuweltliches Nagetier. Ich hielt es normalerweise in einem Käfig, aber natürlich ließ ich es auch hin und wieder draußen frei herumlaufen, es war zahm geworden und kehrte immer zu mir zurück. Bei einem seiner Freigänge erwischte es eines Abends ein Marder und verletzte es schwer. Ich konnte ihn zwar vertreiben und das arme Aguti in meine Obhut nehmen, aber bald merkten wir, dass die inneren Verletzungen zu stark waren, als dass es überleben konnte. Ehe es zu viel leiden musste, erlöste es meine Mutter. Sie machte dies, wenn es nötig wurde, mit der ihr eigenen einfühlsamen und zugleich professionellen Art, manchmal allerdings ging es auch ihr sehr nahe, und ich sah Tränen in ihren Augen.
    Ja, der Urwald war genauso mein Lehrer wie meine Eltern, die mich jeden Morgen diszipliniert unterrichteten. Ich war ja immer noch schulpflichtig und bekam den Unterrichtsstoff von einer Freundin in Lima per Post geschick t – wenn die auch manchmal erst nach Wochen oder Monaten eintraf. Danach richteten sich meine Eltern. Sie waren sehr hinterher, dass ich etwas für die Schule tat und mich nicht die ganze Zeit in den Wald verdrückte. Mein Vater war richtig gut in Mathematik, und ich war richtig schlecht. Da entschied er eines Tages: »Irgendwas muss da am Anfang schiefgelaufen sein, jetzt fangen wir noch einmal ganz von vorne an.« Was war ich begeistert! Aber er hatte recht, und da er wirklich gut erklären konnte, fiel bei mir bald der Groschen. Auf einmal schrieb ich keine Fünfen mehr, sondern bekam eine glatte Eins. Viel lieber als Algebra war mir allerdings das Lesen. Ich verschlang jeden halbwegs interessanten Lesestoff, sodass meine Eltern mir meine Lektüre rationieren mussten. Schließlich legte jedes einzelne Buch eine lange Reise zurück, bevor ich es in die Hand nehmen konnte. Ich erinnere mich

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