Als ich vom Himmel fiel
unbeschwerten Kind zu einer Erwachsenen geworden, und nichts hat mich darauf vorbereitet, weder die Schule in Lima noch die Schule des Urwalds. Ich kann mich zwar tagelang im Regenwald am Leben erhalten, doch gegen das, was nach meiner Rettung auf mich einprasselt, bin ich nicht gewappnet.
Bislang hatte ich ein viel engeres Verhältnis zu meiner Mutter. Sie war sowohl meine Vertraute als auch die meines Vaters. Vielleicht, das wird mir erst jetzt bewusst, war sie immer eine Art Vermittlerin: Sie vermittelte zwischen meinem Vater und der Welt. Die Lücke, die sie hinterließ, lässt uns enger zusammenrücken. Und doch wird mein Vater, der ihren Verlust nie verwinden wird, immer ein Stück weit ein Unbekannter für mich bleiben.
An die fünf, sechs Wochen in Panguana zwischen dem Unfall und meiner Abreise nach Lima habe ich wenig konkrete Erinnerungen. Meine Mutter ist nicht da, aber sie könnte genauso gut auf einer ihrer Auslandsreisen sein. Ich bekomme einen jungen Nasenbären geschenkt, den ich Ursi nenne und der mich ziemlich auf Trab hält. Denn er stellt eine Menge Unsinn an, ist natürlich nicht stubenrein zu kriegen, einmal frisst er unseren gesamten Vorrat an Aspirintabletten auf, ein andermal schnappt er sich unser kostbares Thermometer und verschwindet damit aufs Hüttendach. Ich habe eine Menge Spaß mit ihm, auch wenn er unsere Küche mehrmals verwüstet auf der Suche nach etwas Leckerem.
Leider war, wie Rolf Winter ja berichtete, die zweite Pinxi, einer meiner Stärlingsvögel, während meines Aufenthalts in Yarinacocha gestorben. Mein Vater hatte die Vögel zu Freunden in Pflege gegeben, und dort hatten sie wohl etwas gefressen, was Pinxi nicht vertrug. Nun beginne ich, den anderen Stärling, Punki, langsam auszuwildern. Ich lasse ihn frei, und er schließt sich sofort einer Stärlingsgruppe an, die in einem nahen Baum ihre Hängenester baut. Dennoch kommt er immer wieder zu mir zurück, wenn er mich sieht. Er liebt es geradezu, im Sturzflug in die Küchenhütte gesegelt zu kommen und sich ansatzlos in die Schüssel mit Brotteig oder was sonst gerade herumsteht zu stürzen. Irgendwann geht er mir damit so auf die Nerven, dass ich ihm einen Löffel mit Senf anbiete, und gierig, wie Punki nun mal ist, versenkt er sofort seinen Schnabel darin. Von da an ist er vorsichtiger und klatscht nicht mehr sofort in jede Schüssel.
Die vertraute Umgebung, der Umgang mit meinen geliebten zahmen Tieren und jenen im Wald vor unserer Tür tun mir gut. Wenn mein Vater und ich von der Zukunft sprechen, dann weiß ich genau, was ich will: zurück nach Lima, zwei weitere Jahre zur Schule gehen, um dann mein Abitur zu machen. Genau das, was ich auch vor dem Unfall vorhatte.
Denn ich will mein Leben dort wieder anknüpfen, wo der Faden am 24.Dezember riss. Ich will mein ganz normales Leben weiterleben, genau so wie vorher. Mein Vater spricht einmal davon, mich nach Deutschland zu schicken. Ich widerspreche ihm, was ich selten tue. Ich möchte jetzt noch nicht dorthin. Deutschland ist ja ein fremdes Land für mich. Bloß nicht noch mehr Veränderung, ich will, dass alles so weitergeht wie bisher. Oder wenigstens fast.
Meine Mutter wird niemand mehr zurückholen. Und selbst hier im Urwald, wo eigentlich alles so ist, wie es früher war, ist nichts mehr so, wie es war. Dieses Paradoxon wird mich noch viele Jahre lang begleiten. Denn mein Wunsch nach Normalität ist so stark, dass es manchmal fast wehtut. Hier, im Februar 1972 in Panguana, denke ich tatsächlich, ich hätte »es« hinter mir. Wie sehr ich mich täusche, werde ich bald erfahren.
Die Trauer um meine Mutte r – noch immer hat sie mich nicht erreicht. Erst ungefähr drei Jahre später werde ich an einem Weihnachtstag mit voller Wucht die Unersetzlichkeit dieses Verlusts begreifen. Erst dann werde ich weinen, und zwar den ganzen Tag lang, fast ohne Unterlass. Doch bis dahin bleibt ihr Tod für mich wie eine ferne Theorie. So, als könnte meine Mutter jeden Augenblick aus dem Wald treten, mir lachend zurufen, was sie jetzt schon wieder Spannendes entdeckt habe. Viele Jahre lang träume ich immer wieder, dass ich sie plötzlich zufällig auf der anderen Straßenseite entdecke. Ich renne zu ihr, spreche sie an, wir fallen uns in die Arme, und alles ist gut. Ich bin grenzenlos erleichtert und sooo glücklic h – bis ich wieder erwache.
Ich weiß, dass dies niemals mehr geschehen wird. Doch Denken und Fühlen sind voneinander getrennt. In diesen Tagen und Wochen
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