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Als ich vom Himmel fiel

Als ich vom Himmel fiel

Titel: Als ich vom Himmel fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliane Koepcke
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zwischen dem Absturz und dem, was kommen wird, lerne ich, dass Verstehen und Begreifen zweierlei sind. Zumindest habe ich hier ein wenig Ruhe, selbst wenn mich besonders zähe Journalisten sogar bis in unser so schwer zu erreichendes Refugium verfolgen.
    Einmal kommt beispielsweise zu unserer großen Überraschung eine Krankenschwester an, die vorgibt, meine Wunden untersuchen zu müssen. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor.
    »Sie kenne ich doch«, sage ich, »hab ich Sie nicht in Yarinacocha gesehen?« Es ist eine Journalistin, die damals bereits in einer anderen Rolle versuchte, zu mir vorzudringen. Jetzt hat sie sich als Schwester verkleidet. Mein Vater jagt sie davon. Den Rest des Tages ist seine Miene düster. Ich möchte gerne wissen, was hinter seiner Stirn vor sich geht. Oder besser: Ich möchte es lieber nicht wissen.
    Die Wochen vergehen, und das Leben geht weiter. Ich freue mich auf die Klassenkameraden, die sich wie ich auf das Abitur vorbereiten werden. Auf ein Leben in Lima mit Kino und Milkshake und Ausflügen an den Strand. Nach dem Abitur werde ich Biologie studieren, dafür werde ich dann wirklich nach Deutschland gehen, so hatte ich es schon lange mit meiner Mutter besprochen. Denn in Deutschland sind die Universitäten besser, hat sie gesagt. Ich möchte, genau wie sie und mein Vater, in Kiel studieren und Zoologin werden. Doch das wird noch zwei Jahre dauern. Zwei Jahre sind eine lange Zeit im Leben einer 17-Jährigen. Und dann ist es so weit, das neue Schuljahr steht vor der Tür.
    Wenn ich nur schon dort wäre! Doch bevor ich in Lima wieder zur Schule gehen kann, muss ich die Anden überqueren.
    »Ich fliege mit dir«, sagt mein Vater. Ich habe einen Kloß im Hals. Natürlich buchen wir nicht mit der LANSA, selbst wenn wir wollten, wäre das nicht möglich, denn mit der Electra, die am Weihnachtstag abstürzte, verlor die Fluggesellschaft nicht nur ihre letzte Maschine, sondern auch die Lizenz. Mein Vater, der in Lima versucht, die Gesellschaft zu verklagen, wird erfahren, dass sie sich längst aufgelöst hat. Aber auch die Tatsache, dass wir mit einer anderen Linie fliegen, nimmt mir nicht die Angst vor diesem Flug.
    »Müssen wir fliegen?«, frage ich meinen Vater.
    Er wirft mir einen kurzen Blick zu. Dann sagt er: »Es wird besser sein, als drei Tage über die Anden zu kurven, findest du nicht?«
    Ich bin mir nicht sicher, ob es besser sein wird. Aber ich sage nichts mehr. Schon lange habe ich gelernt, tapfer zu sein.
    Wenn ich geglaubt habe, dass mich die Welt inzwischen vergessen hat, so werde ich bereits in Pucallpa eines Besseren belehrt. Woher die Journalisten wissen, dass ich gerade jetzt nach Lima fliegen werde, ich habe keine Ahnung. Jedenfalls halten sie mir von allen Seiten Mikrofone vor das Gesicht, Kameras surren, Blitzlichter blenden mich, Blumen werden mir überreicht, Fragen prasseln auf mich ein. Ob es mir gut gehe. Wie meine Wunden heilen. Was ich anfangen werde mit meinem Leben. Ob ich nicht die Mädchen von Pucallpa grüßen möchte. Ob ich keine Angst habe, wieder in ein Flugzeug zu steigen.
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Natürlich habe ich Angst. Noch mehr aber erschreckt mich diese Meute, die so unversehens über mich herfällt. Fast bin ich erleichtert, als ich im Flugzeug sitze. Doch nur so lange, bis es startet. Dann merke ich, wie sich jeder Muskel in meinem Körper anspannt.
    Ich schließe die Augen, versuche tief durchzuatmen. Lausche angestrengt auf jedes noch so geringe Geräusch. Heute ist kein Gewitter weit und breit zu sehen. Zum Glück dauert der Flug nur eine knappe Stunde. Aber 5 0 Minuten können so schrecklich lang sein.
    Ich habe es schon fast hinter mir, da höre ich einen Lärm, der mich in Panik versetzt. Es ist ein Rattern und Schlagen, für einen Moment setzt mein Herzschlag aus, der Schweiß bricht mir aus allen Poren, ich klammere mich am Sitz vor mir fest.
    »Ganz ruhig«, sagt mein Vater, »das sind nur die Fahrgestelle, die werden jetzt ausgefahren. In ein paar Minuten landen wir schon.«
    Ich atme auf. Kurz darauf steige ich, noch mit wackeligen Knien, aus dem Flugzeug.
    Doch was wollen all diese Menschen am Fuß der Treppe? Eine ganze Traube belagert das Flugfeld, umringt das Flugzeug. Dürfen die das? Warten die etwa auf mich? Schon wieder werde ich fotografiert, auch hier hält man mir Mikrofone entgegen. Am liebsten würde ich wieder umkehren und mich im Flugzeug verkriechen. Doch die anderen Passagiere drängen von hinten

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