Als ich vom Himmel fiel
setzen und zu meiner Tante Cordula schicken.
Ich bin entsetzt. Weine. Bettle darum, dass ich bleiben darf. Ich will nicht nach Deutschland. Nimm mir nicht auch noch meine Heimat, will ich schreien, nicht auch noch das, ich hab doch schon so viel verloren. Aber durch sein streng tadelndes »So trauerst du um deine Mutter« scheint mir jedes Recht entzogen. Es geht mir ja gut, man konnte es im Fernsehen hören. Nur er verzehrt sich vor Kummer um seine geliebte Frau. In den nächsten Tagen hoffe und bete ich, dass er zur Vernunft kommen wird. Wenn er sich erst einmal beruhigt hat, denke ich, wird er es nochmals überdenken. Doch mein Flehen ist umsonst. Sein Urteil ist gefallen.
»Hier in Peru«, sagt er ein paar Tage später, »wirst du nie mehr zur Ruhe kommen. Diese Aasgeier von Journalisten werden verhindern, dass du hier ein normales Leben führen kannst. Glaube mir, es geschieht nur zu deinem Besten. In Deutschland wirst du ein neues Leben anfangen können.«
Ein neues Leben. Dabei will ich kein neues Leben. Ich will doch einfach nur, wie jedes andere Mädchen meiner Klasse, mein altes Leben weiterführen, zur Schule gehen und mein Abitur machen. Danach werde ich nach Deutschland gehen. Doch nicht jetzt, nicht jetzt, nach all dem, was wa r …
Es hilft alles nichts. Für die Papiere müssen Passbilder gemacht werden. Ich habe auf ihnen verweinte Augen. Alles geht so schnell, wie in einem bösen Traum, aus dem ich einfach nicht erwachen kann.
Als meine Schulfreunde von meiner bevorstehenden Abreise hören, organisieren sie ein Abschiedsfest für mich. Bei dieser Gelegenheit überreichen sie mir einen wunderschönen Ring, Rotgold mit einem rosa Turmalin, damit ich sie nie vergesse. Sie haben zusammengelegt, um ihn mir kaufen zu können. Ich bin gerührt und muss schon wieder weinen.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich mit meinem Vater durch die Straßen von Miraflores gehe. Er will mir etwas erklären, spricht von der Philosophie, der meine Mutter und er anhingen, von dem Glauben der alten Ägypter an die Bedeutung der Sonne als Leben spendende Kraft. Ich merke, er sucht nach Worten, macht mit der Hand eine seltsame Bewegung, so als müsse er etwas verscheuchen, doch da ist nichts.
»Was machst du denn da?«, frage ich erschrocken, »was soll das denn?«
»Ach nichts«, sagt er und bleibt stehen.
»Juliane«, sagt er dann in einem ganz anderen Ton, »deine Mutter und ich, wir hatten ein paar Regeln, an die wir uns immer hielten. Eine davon lautet, dass man sich niemals im Streit voneinander verabschieden soll oder noch nicht mal sich abends schlafen legen darf, ohne sich versöhnt zu haben.«
Ich sehe ihn an und warte, dass er weiterspricht. Er fährt sich mit der Hand über sein Gesicht.
»Das ist wichtig«, sagt er.
Mehr nicht. Ich sehe ihm ins Gesicht, betrachte die tiefen Falten, den verzweifelten Zug um den Mund, seine wachen, fast brennenden Augen, die noch mehr in ihre Höhlen zurückgesunken zu sein scheinen. Und auf einmal erkenne ich: Mein Vater ist mit seinen Nerven vollkommen am Ende.
Ob er sich mit diesen Sätzen, unbeholfen, wie er in Gefühlsdingen nun mal war, mit mir versöhnen wollte? Damals war ich zu jung, zu verzweifelt und verwirrt, um das zu erkennen. Zu den Großeltern meiner Freundin, bei denen ich wohnte, sagte ich beim Abschied: »Ich komme bald wieder!«
Doch die sahen sich nur an und meinten dann: »So schnel l … das glauben wir eigentlich nicht, Juliane. So bald wird das nicht sein.«
Aber das wollte ich nicht hören. Ich erwiderte: »Doch doch, da bin ich mir sicher.«
Es gibt Bilder vom Flughafen in Lim a – denn natürlich folgten mir die peruanischen Journalisten bis zum allerletzten Moment, und in Deutschland erwarteten mich bereits ihre Kollege n –, auf denen ich traurig in die Kamera winke, während mein Vater mich mit einem ziemlich verkniffenen Gesicht im Auge behält. Er sieht nervös aus auf diesen Bildern. Vielleicht zweifelt er an seiner Entscheidung? Oder fürchtet er, ich würde ihm im letzten Augenblick doch noch einen Strich durch die Rechnung machen? Dass ich gegen meinen Willen nach Deutschland geschickt wurde, das habe ich viele Jahre lang, wie so vieles, zumindest nach außen hin erfolgreich verdrängt. Lange sagte ich: » … und dann haben wir entschieden, dass ich besser nach Deutschland ging.« Aber in Wahrheit hat mein Vater das entschieden, und ich war sehr unglücklich darüber. Heute habe ich natürlich eingesehen, dass sein
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