Als ich vom Himmel fiel
»Life«-Artikel vom selbst gebauten Floß übernommen: »Daß Juliane wusste, welche Äste und Lianen sich zum Bau eines Floßes eignen, war der zweite Glücksfall, der ihr Leben rettete: Hätte sie für ihr Floß das falsche Material gewählt, wäre sie in der Mitte des Flusses ohne Chance gewesen, denn in der Regenzeit führen auch die kleinen Flüsse, die sämtlich Zubringer des Amazonas sind, eine rasende Strömung.«
Auch die Information, ich hätte im Arm »viele Würmer« gehabt, die den Fachmann aus München dazu brachte, einen Leserbrief zu schreiben, findet sich in diesem allerersten Artikel.
Im zweiten Teil der Reportage ist ein Satz zu lesen, den mir später so mancher vorgehalten hat: »Nach dem Absturz nahm sich Juliane vor: ›Nun hat Vater seine Frau verloren, aber seine Tochter soll er nicht auch noch verlieren‹.« Dies suggeriert, ich hätte meine tote Mutter gesehen und womöglich noch andere Leichen oder Verletzte, was natürlich nicht der Fall war. Daraus entstanden dann die falschen Meldungen, Verletzte seien weinend und schreiend durch den Wald geirrt, ich aber wäre allein losgegangen. Doch das sind im Grunde alles die typischen Ungenauigkeiten, vor denen Journalisten offenbar weltweit nicht gefeit sind. Viel mehr traf mich der Ton und Inhalt des letzten Teils der Reportage, verfasst von Rolf Winter. Hier, im Heft Nr . 9, 17. bis 23.2.1972, werde ich auf Seite 54 wie ein gefühlloses, arrogantes, frühreifes Kind hingestell t – in dem Artikel kommt ganze sieben Mal der Ausdruck »die kleine Juliane« vo r –, das von dem Erlebten völlig unberührt bleibt und auch noch unverständlicherweise zurück in den Urwald möchte. Er bemerkt offenbar nicht, dass ich noch immer unter den Nachwirkungen eines starken Schocks steh e – selbst im Jahr 1972 hat man meines Wissens bereits von diesem Phänomen gehört. Ich bin im Grunde alles andere als ein nachtragender Mensch, aber Rolf Winters letzten Absatz habe ich ihm bis heute nicht verziehen. Er lautet:
»Es ist nicht zu befürchten, daß sie auf ihrem ferneren Lebensweg unter einem Überschuß an femininen Emotionen zu leiden haben wird, und sie wird sich auch nicht den Kopf über den tragischen Umstand zerbrechen, daß ihre nun tote Mutter und sie eigentlich gar nicht in der Unglücksmaschine sitzen wollten, sondern im Flugzeug einer anderen Gesellschaft, für das sie schon Tickets besaßen. Jemand sagte ihnen irrtümlich, der Flug falle aus, da flogen sie mit der ›Lansa ‹ – die Mutter in den Tod, die Tochter in tragik-umgebenes Glück.
Die kleine Juliane, die so fragil und hilfsbedürftig aussieht, viel eher Kind als Frau, wird mit so etwas fertig. Freilich, sie ist auch nur ein Mensch. Jemand erzählt ihr, daß auf der Station in Panguana ihr Vogel ›Pinxi‹ gestorben ist. Sie hat ihn einmal gefunden, nachdem er aus dem Nest gefallen war, sie liebt ihn, und nun ist er tot.
Da weint die kleine Juliane.«
Ich werde mich daran gewöhnen, meine Geschichte in für mich immer wieder überraschenden Varianten zu lesen und dass wildfremde Menschen viel besser wissen, wie es damals war, als ich selbst. Aber an bestimmte Dinge gewöhne ich mich nie. Unheimlich ist mir, wie meine Urwald-Wanderung die Phantasien beflügelt, bis hin zu dem reißerischen Roman »Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen«. Gut möglich, dass mein Schicksal Konsalik zu diesem Machwerk »inspiriert« hat, einer unsäglichen Geschichte von einem blonden, ebenfalls 17-jährigen Mädchen, das praktischerweise gemeinsam mit einem mutigen jungen Mann einen Flugzeugabsturz in Amazonien überlebt und von gefährlichen Kopfjägern entdeckt und als Sonnengöttin verschleppt wir d … und so weiter und so fort. Natürlich ist in vielen Berichten auch die Rede davon, dass mein Kleid völlig zerrissen und ich halb nackt gewesen sei. Ich habe das Minikleid aufgehoben, und außer dem defekten Reißverschluss und einer kleinen offenen Stelle an der Seitennaht ist es in einem erstaunlich tadellosen Zustand. Aber die Wahrheit ist offenbar irgendwann nicht mehr so wichtig, sie muss hinter dem, was sich die Menschen in ihren kühnsten Phantasien vorstellen, zurückstehen.
Kein Wunder also, dass ich erleichtert bin, als ich Ende Januar 1972 endlich so weit hergestellt bin, dass ich reisen kann. Gemeinsam mit meinem Vater fahre ich nach Panguana. Unser Verhältnis hat sich durch das Geschehene von Grund auf gewandelt. Von heute auf morgen, so kommt es mir vor, bin ich von einem
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