Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Splitter getroffen. Wenn der das Gesichtchen nicht bedeckt gehabt hätte, wäre ihm was passiert. Der war noch ganz klein. Als es dann aber immer schlimmer wurde, war der Keller auch nicht mehr sicher. Meine Mutti, mein Opa und Joachim, der ja im Bunker keine Luft bekam, sind dann einfach in der Küche meiner Großeltern geblieben. Das war schon sehr mutig.«
Ein böser Traum
Auszug aus dem Pflegebericht
Die Bewohnerin ist heute in Begleitung ihrer Söhne aus Münster und aus Berlin zu uns in den Wohnbereich gezogen. Sie hat ihre eigenen Möbel mitgebracht. Die Bewohnerin ist gestern aus dem Elisabeth-Krankenhaus in Essen entlassen worden, wo sie sich eine Woche in der Geriatrie wegen Demenz mit begleitender Depression und Angstzuständen (Psychosen) behandeln lassen hat. Die Bewohnerin ist sehr schlank und sagt selbst, dass sie nicht noch mehr abnehmen möchte. Sie leidet an einer demenziellen Entwicklung mit begleitender Psychosomatik. Motorisch ist sie hauptsächlich nachts unruhig, was sich aber unter medikamentöser Behandlung schon gebessert hat. In der Pflege braucht sie Anleitung und Strukturierung. Sie lässt sich bei Gruppenarbeiten und Beschäftigung gut integrieren. Bei der Nahrungsaufnahme braucht sie Anleitung und Überwachung. In Gesellschaft isst und trinkt sie aber gut.
Meine Mutter ist in einem professionellen Pflegesystem zu »einem Fall« geworden. Vieles an Privatheit geht verloren. Ich habe Angst, dass man sie als Objekt und nicht als Mensch behandeln könnte. Um dem entgegenzuwirken, habe ich für das Heim einen kurzen Lebenslauf meiner Mutter geschrieben. Wer ihre persönliche Geschichte kennt, so der Gedanke, wird sie anders wahrnehmen. Sie selbst war damit einverstanden. Doch obwohl ich natürlich auf allzu private Details verzichtet habe, hat dieser Vorgang auch etwas Entblößendes. Meine Mutter hätte ihre Geschichte diesen noch völlig fremden Menschen vermutlich anders erzählt.
Immer wieder frage ich mich, ob wir etwas falsch machen. Welche Alternativen gibt es? Vieles dreht sich dabei im Kreis, und ich habe ein schlechtes Gewissen.
Zwei Wochen nach ihrem Umzug bin ich wieder bei ihr. Ein Vormittag im November. Sie hat gut geschlafen, immerhin. Wir gehen spazieren. Die Sonne strahlt, ohne zu wärmen.
– Weißt du, dass du eine Demenz hast?
– Ja.
Ihre Antwort kommt zögernd. Langsam schiebt sie eine mittellange Haarsträhne zurück unter die Mütze. Noch ist das alte Blond nicht gänzlich vom neuen Grau verdrängt. Eine gutaussehende Frau, hieß es immer und heißt es auch heute noch. Ich kann dazu nichts sagen, sie ist meine Mutter. Als Kind war sie die schönste Frau meiner Welt.
– Wie fühlt sich das an?
Ich habe einen Arm um ihre Schultern gelegt, halte ihre Hand, ihre langen, schlanken Finger. Sie sind kalt. Sie kuckt mich an, versucht ein Lächeln, wendet sich wieder ab, schaut zu Boden, schweigt.
– Wie fühlt sich das an, Mama?
Durch den dicken Mantel spüre ich ihre Schulterknochen.
– Wie fühlt sich was an?
Sie hebt den Kopf. Ganz ruhig. Ihre Augen glänzen, der Blick geht mehr nach innen. Ihre Müdigkeit ist neu für mich. Ich weiß noch nicht, welche Medikamente sie bekommt, welche Nebenwirkungen die mit sich bringen.
– Dass du eine Demenz hast.
Ein kleines Zucken in ihren Schultern. Sie wirkt zerbrechlich. Dabei hat sie sich immer darum bemüht, jung zu bleiben oder zumindest zu wirken. Modische Kleidung, viel Sport, Reisen, Theaterbesuche, Nähe zu ihren Kindern, ihren Enkeln. Ich nehme sie noch ein wenig fester in den Arm, will sie vor der Kälte schützen. Zumindest vor der Kälte. Wieder schaut sie mich an. Jetzt versuche ich zu lächeln.
– Mama, wie fühlt sich das an, dass du eine Demenz hast?
Wieder ein schwaches Beben ihres Körpers. Der Begriff ist noch fremd. Er passt noch nicht. Doch sie scheint zu wissen, was ich meine. Ihre Antwort kommt leise, aber deutlich.
– Undurchsichtig.
Sie schaut wieder zu Boden, als läge dort im Kies eine Antwort. Ich stelle mir ihre Erinnerungen wie eine große, schöne Sandburg an der Nordsee vor. Und dann kommt die Flut.
Später sitzen wir in ihrem Zimmer. Meine Mutter hat einen Schrank, eine Kommode, einen Tisch, zwei Sessel und einen Kronleuchter mitgebracht. Das Bett gehört der Einrichtung. Es ist ein Pflegebett, an dem sich per Knopfdruck alles Mögliche verstellen lässt, was Mascha, wenn sie mich begleitet, jedes Mal ausgiebigst nutzt. An den Wänden hängen viele Bilder, die
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