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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Langsamkeit: kurz Menschlichkeit« zu lernen.
    Am nachhaltigsten beeindruckt mich der Gerontologe Andreas Kruse. Der agile, selbstbewusste Professor aus Heidelberg zählt zu den renommiertesten Alternswissenschaftlern Deutschlands. Er spricht von der »bemerkenswert positiven emotionalen Befindlichkeit dementer Menschen« und dem »Genuss des Augenblicks«, um den man immer wieder kämpfen müsse. Seine positive Perspektive überrascht mich. Darüber wüsste ich gern mehr.
    In umfangreichen Studien hat Kruse mit Kollegen dargelegt, dass Menschen mit Demenz Alltagssituationen emotional differenziert wahrnehmen können und zudem in der Lage sind, ihre emotionale Befindlichkeit nonverbal auszudrücken. Demnach ist es für Pflegende, denen es gelingt, diese vorwiegend mimischen Äußerungen wahrzunehmen und einzuschätzen, durchaus möglich Freude, Wohlbefinden, Ärger, Wut, Traurigkeit oder Scham der Betroffenen zu erkennen und darauf einzugehen. Dadurch wird ihre Selbstbestimmung unabhängig vom Stadium ihrer Demenz unterstützt und ihre Lebensqualität gesteigert.
    Dass das im Pflegealltag allerdings nur unzureichend umgesetzt wird, offenbart der Pflegereport der Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen von 2012. Demnach wurde zuletzt bei nur gut der Hälfte der Menschen mit Demenz das Wohlbefinden ermittelt. Darüber hinaus geht Kruse davon aus, dass auch Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz einen ausgeprägten Spürsinn für Echtheit und Authentizität haben und sensibel registrieren, ob sie als Persönlichkeit gesehen und geachtet werden. Gerade weil ihr Gedächtnis und die verstandesmäßigen Fähigkeiten beeinträchtigt sind, nehmen sie Situationen undzwischenmenschliche Beziehungen verstärkt intuitiv wahr.
    Kruse zu sprechen, ist nicht ganz einfach. Aufgrund der Forschung und der Veröffentlichungen seines Instituts ist er ein sehr gefragter Experte. Nach einigen Anläufen treffe ich ihn in einem Café am Berliner Flughafen Tegel.
    – Für mich ist die neurodegenerative Demenzerkrankung für die Nervenzelle das, was der Tumor für die Körperzelle ist – sie beschreibt die letzte Grenze unseres Lebens.
    Kruse braucht nicht lang, um auf das für ihn Grundsätzliche zu kommen. Dann erzählt er von einem Onkel, der zur Demenz forschte und schließlich selbst eine bekam.
    – Es gibt ganz klar diesen engen Zusammenhang zwischen Lebensalter und Demenz. Viele meiner Kollegen sind davon überzeugt, dass es irgendwann jeden trifft, wenn er nur lang genug lebt. Wir sterben einfach nicht mehr die raschen Tode.
    – Und was folgt daraus?
    – Wenn anerkannt wird, dass es jeden treffen kann, geht man natürlich anders damit um.
    Kruse hat sich in seinen Veröffentlichungen immer wieder dazu geäußert, inwieweit die Begegnung mit einem Menschen mit Demenz, insbesondere bei Angehörigen, nicht nur Unsicherheit, sondern auch massive Ängste auslösen kann. Es geht um die eigene Zukunft und das »nicht gelingende Altern«. Hans-Georg Nehen hat ebenfalls darüber gesprochen, was es für jeden Einzelnen, aber auch für eine ganze Generation bedeutet, wenn Vorbilder, also die eigenen Eltern, auf eine bedrückende Weise altern.
    – Haben Sie persönlich Angst davor, dement zu werden?
    – Überhaupt nicht. Ich denke, ich könnte damit leben. Ich glaube allerdings, dass man sich auf das Alter sehr gut vorbereiten muss. Ich halte das schon für eine sehr schwierige Lebensphase. In der Kultur unserer Gesellschaft wird das sehr gern verdrängt. Was den Menschenim hohen Lebensalter abverlangt wird, ist schon gewaltig.
    Dabei geht es nicht nur um die individuelle Herausforderung. Laut der Weltgesundheitsorganisation ist Demenz »eine der bedeutendsten gesellschaftlichen, gesundheitlichen und ökonomischen Risiken des 21. Jahrhunderts«.
    – Wir sprechen immer von der »Aktivität und Produktivität« älterer Menschen, solange sie geistig fit sind. Aber was ist mit denjenigen, bei denen schwere kognitive Einbußen bestehen? Ein Dementer ist irgendwann nicht mehr produktiv, sondern ein Kostenfaktor.
    Die jährlichen Durchschnittskosten für einen Patienten mit Demenz liegen laut Robert-Koch-Institut in Deutschland bei 44000 Euro, während sich die Belastungen weltweit nach Angaben der Welt-Alzheimer-Gesellschaft auf sechshundert Milliarden US -Dollar pro Jahr summieren sollen. Das ist etwa ein Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Für Kruse geht es angesichts dieser Herausforderungen um eine Kultur des

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