Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
meisten sind selbst gemalt, von Mascha oder von mir, als ich noch ein Kind war. Dazu überall Fotos von der Familie, im Urlaub oder auf Familienfeiern. An der Tür zum Bad hängt ein riesiges, von Mascha gebasteltes » WC «-Schild, das meiner Mutter die Orientierung erleichtern soll, was aber nur bedingt gelingt. An der Gestaltung des Raumes hat sie sich kaum beteiligt, sie ist aber nach wie vor bereit, sich auf die neue Umgebung, die neue Situation einzulassen. Eigentlich ist es ein schönes Zimmer. Und doch ist es ein Heimzimmer. Es ist nicht ihr Zuhause. Das wird es nie werden .
Der Blick geht durch das große Fenster auf eine Wiese, ein paar junge Bäume, eine Hecke. Egon wohnt auf der gleichen Etage, zwanzig Meter und zwei Ecken weiter. Ein Weg, den meine Mutter ohne Hilfe nicht findet.
Fast beiläufig sagt sie: »Ich wünschte, das ist ein böser Traum: Ich wache auf, und alles ist gut.« Was soll ich sagen? Mir geht es genauso. Ich nehme sie in den Arm und schweige.
Eine Woche später erreicht mich in Berlin ein Anruf aus dem Heim. Eine Pflegerin bittet mich, mit meiner Mutter zu sprechen. Die ist völlig aufgelöst, weiß nicht, wo sie sich befindet, was sie da soll. Sie will das Heim sofort verlassen und glaubt der Pflegerin kein Wort. Die wiederum ist überfordert und hofft nun auf meine Hilfe. Meine Mutter erkennt meine Stimme. Es gelingt mir, sie zu beruhigen. Sie gibt zu, dass sie manchmal Dinge durcheinanderbringt, sie lässt sich von mir sagen, dass dieses Heim ihr »neues Zuhause« ist, dass sie der Pflegerin glauben und vertrauen kann. Sie widerspricht mir nicht. Zum Abschied sagt sie: »Ich weiß nicht.«
Ich lege auf – und weiß auch nicht. Diese Demenz bringt den Blues. Meine Hilflosigkeit macht mich wütend. Ich weiß nicht wohin mit meiner Wut und gehe joggen. Von Berlin nach Warendorf sind es knapp fünfhundert Kilometer, mindestens fünf Stunden mit dem Auto, wenn ich eines hätte. Ähnlich lang dauert die Reise mit der Bahn. Vor Einbruch der Nacht wäre ich nicht da. Und wenn ich da wäre? Auch das weiß ich nicht. Drei Stunden nach dem Telefonat ruft meine Frau im Heim an. Meine Mutter wirkt gefasst. Die beiden singen am Telefon gemeinsam Weihnachtslieder. Meine Mutter tut das eher leise. Sie sei mit einer Reisegruppe unterwegs und wolle sich nicht in den Vordergrund drängen. Danach spreche ich mit der Pflegerin. Meine Mutter habe sich beruhigt, sagt sie.
Trotzdem schlafe ich schlecht. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn meine Mutter irgendwann meinen Namen vergessen haben sollte. Es will mir nicht gelingen.
»Nichts haben wir im Griff.«
Der Alternswissenschaftler Andreas Kruse
Eine öffentliche Tagung des Deutschen Ethikrates im großen Sitzungssaal der altehrwürdigen Hamburger Handwerkskammer. Thema der Veranstaltung: »Demenz – Ende der Selbstbestimmung?« Bevor es losgeht, tragen Mitarbeiter noch zusätzliche Stühle in den überfüllten Raum. Mehr als dreihundert Zuhörer haben sich in dem hohen, holzvertäfelten Saal eingefunden.
Es geht um Demenz nicht nur als »Herausforderung für Angehörige, Pflegende und Medizin, sondern für die ganze Gesellschaft«. Deswegen werden in den Begrüßungsreden auch erst mal die aktuellen Zahlen zum »Dämon Demenz« referiert. In Deutschland ist etwa jeder Vierzehnte über sechzig Jahre und jeder Dritte über achtzig Jahre davon betroffen. Das sind insgesamt ungefähr 1,3 Millionen Menschen. Jedes Jahr kommen je nach Schätzung zwischen 200000 und 300000 neue Fälle dazu. In Österreich sollen aktuell 130000 und in der Schweiz 120000 Menschen mit Demenz leben. Dass die Zahl unaufhaltsam zunimmt, ist auf unsere gestiegene und weiter steigende Lebenserwartung zurückzuführen. Während diese um 1900 in Deutschland noch bei vierzig Jahren lag, gehen Statistiker bei einem heute geborenen Kind von der doppelten Lebenszeit aus. So gesehen, ist die altersbedingte Demenz nichts anderes als der Preis für unseren Wunsch nach einem langen Leben.
Die meisten Referenten tragen einen Professorentitel, auch eine ehemalige Ministerin ist dabei. Sie sprechen von »wuchernden Eiweißen«, dem »Angriff auf unser Selbstverständnis«, »der Kunst des Alterns« und zitieren Simone de Beauvoir mit der sympathischen Erlaubnis, »vom Lebenerschöpft zu sein«. Zwischendurch steht eine Frau mit beginnender Demenz auf der Bühne, die an die »Verantwortung der Gesellschaft« erinnert und die Anwesenden auffordert, »Achtsamkeit,
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