Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
0:30 Uhr waren die Beamten vor Ort. Sie suchten das ganze Haus ab, während eine zweite Streife die Umgebung des Hauses absuchte. Schließlich fand man die Bewohnerin in der Höhe der Höfe Lohmann. Um ca. 1:20 Uhr war sie wieder im Heim.
Das sind keine guten Nachrichten. Ein Polizeihubschrauber mit Wärmebildkamera soll schon startbereit gewesen sein, als meine Mutter doch noch wieder auftauchte.
Die Bewohnerin konnte sich noch an ihren nächtlichen Ausflug erinnern. Sie hatte nicht vor, gezielt wegzulaufen. Sie meinte, dass sie einen Kurzschluss im Gehirn hatte und immer dem Licht nachgelaufen ist. Bewohnerin ist auch am Tag völlig orientierungslos.
Immerhin kann sie sich ihren Ausflug auch am nächsten Tag noch ins Gedächtnis rufen. Egons Herz hat die Aufregung vermutlich nicht allzu gut getan. Ich frage mich, was das war: Der Fluchtversuch einer erwachsenen Frau? Der nächtliche Spaziergang einer hilflosen Person? Was hat sie getrieben? Neugier, Panik? Meine Mutter will nicht darüber reden. Die »Angelegenheit« ist ihr etwas unangenehm. Und doch glaube ich bei ihr auch eine Prise Genugtuung über diesen Akt der souveränen Selbstbestimmung zu erkennen.
Die Demenz und der Umzug ins Heim sind ein Bruch in ihrem Leben. Es passt nicht. Noch nicht, hoffe ich. Egon ist eine Stütze, obwohl er selbst mit gesundheitlichen Problemen kämpft und mit seinem Schicksal hadert. Immer wieder erinnert er sich und uns an die schwierigen Umstände, die er im und nach dem Krieg bewältigen musste. Es klingt, als ob er seinen Umzug ins Heim mit einer Art Gefangenschaft vergleicht. Die beiden sind im Moment jeder für sich bestimmt nicht glücklich, aber sie sind ein Paar, das zusammenhält, das sich bemüht, den Alltag zu bewältigen, der neuen Situation etwas abzugewinnen. Sie motivieren sich gegenseitig zu kleinen Spaziergängen, erinnern sich an die Einnahme ihrer Medizin und bewahren gemeinsam Haltung. Dass die beiden rührend zusammenhalten, ist ein Trost und auch eine Entlastung. Ich wüsste nicht, wie es anders gehen sollte.
Oft liege ich in dieser Zeit nachts wach, denke an meine Mutter, an ihr Schicksal. Es sind traurige Gedanken. Ich möchte sie retten und beschützen und merke, dass meine Ressourcen langsam ausgereizt sind. Ich arbeite freiberuflich, bin immer wieder auf Reisen, auch meine Frau ist berufstätig. Wir sind froh, dass es gelingt, die Kinder gut großzuziehen. Für einen Pflegefall im Haushalt ist kein Platz, keine Zeit, keine Kraft. Bei meinem Bruder ist es genauso. Meine Mutter hatte nie die Erwartung geäußert, bei uns alt zu werden. Sie hätte sich aber wohl auch nicht dagegen gewehrt. Aber es geht nicht. Das heißt, ich will diesesLeben, wie ich es führe und liebe, nicht aufgeben. Punkt. Oder besser »Komma«, denn ein Unbehagen bleibt. Ich bemühe mich, sie so oft wie möglich zu besuchen, obwohl ich mich mit der Atmosphäre im Heim noch nicht wirklich anfreunden kann.
Anfangs musste ich häufig an das düstere Altenheim in Michels Lönneberga denken, dessen Bewohner eher dahinvegetieren denn leben, bis der kleine Held sie befreit. Das Altenheim meiner Mutter ist modern und hell. Und doch ist die Atmosphäre von einer Art Warten auf Godot -Stimmung beherrscht. Obwohl … Eigentlich ist es ein Warten auf den Tod.
Ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen. Es gelingt mir nicht. Ich suche Bilder für das, was passiert … Eine Existenz, auf Glas gemalt. Es zeigen sich erste Sprünge, anfangs sind es kleine Scherben, die herausfallen, dann große Scherben. Der Versuch zu flicken und zu kleben, das Bild irgendwie aufrechtzuerhalten. Einzelne Bruchstücke tauchen tatsächlich wieder auf, landen aber an der falschen Stelle. Der Spiegel wird zum Mosaik mit vielen Löchern und unsinnigen Überlappungen. Eine kubistische Existenz. Doch auch die Restscherben brechen in immer kleinere Stücke. Am Ende bleibt ein Haufen Glassand. Das komplette Vergessen. Für mich ein Albtraum. Und für meine Mutter?
Was in solchen Nächten wächst, ist das Bewusstsein für das dünne Eis, auf dem ich ein erfülltes Leben führe. Mir wird klar, wie sehr ich dieses Leben liebe, wie banal manche Alltagssorgen eigentlich sind. Und wie ich selbst diese Sorgen im Grunde schätze.
Vor meinem nächsten Besuch erzählt mir meine Schwägerin Mago, dass sich meine Mutter nach wie vor sehr für Modekataloge interessiere, dass sie zu ihrem Bedauern aber nichts wirkliches Passendes fände – mit Ausnahmeeines attraktiven
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