Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Bikinis. Bei der Begrüßung berichtet meine Mutter mir dann, dass sie am Vortag mit dem Skiklub unterwegs war und dass sie jetzt in einer anderen Leistungsgruppe fährt. Meist drehen sich die von mir angeregten Gespräche allerdings um ihre und auch meine Kindheit.
Die frühesten und stärksten Erinnerungen halten sich am längsten. »Last in, first out«, das Ribot’sche Gesetz, benannt nach dem 1881 geborenen Nervenarzt Thédule Ribot. Mir fällt auf, dass sich meine Mutter kaum noch nach meinem aktuellen Leben und dem meiner Familie erkundigt.
Eine Pflegerin kommt. Sie spricht freundlich, doch wohl auch für meine Mutter zu laut und bringt diese ungefragt wie ein Kleinkind zur Toilette.
Unsere Gesprächspausen werden mit der Zeit immer länger und wachsen sich zu einer Stille aus, gefüllt mit ihrer Angst und meiner Ratlosigkeit. Am schwersten ist jedes Mal der Abschied.
Vor dem Abendessen wird meine Mutter unruhig. Sie arbeitet an einem Problem.
– Wann geht noch mal der Zug?
Es gibt keine Reise, die für meine Mutter geplant sein könnte, und der nächste größere Bahnhof liegt im dreißig Kilometer entfernten Münster. Die Frage aber ist nicht neu. Immer wieder erkundigt sie sich in den letzten Wochen nach »ihrem Bus« oder »ihrem Zug«.
– Welcher Zug?
– Na, der Zug halt.
Sie schaut mir ins Gesicht. Ihr Blick ist vorwurfsvoll. Ich mag das nicht.
– Wo willst du denn hin?
– Nach Hause.
Die befürchtete Antwort. Sie hofft und glaubt an einen anderen und besseren Ort als diesen hier. Ich kann sie verstehen. Das ändert nichts. Meine Mutter hatte in über siebzig Jahren drei Zuhause: ihr Elternhaus, das längst verkaufte Haus, in dem sie mit meinem Vater, meinem Bruder und mir lebte, und das Haus am Grugapark, in dem sie die letzten zehn Jahre mit Egon verbracht hat und von dem aus sie zuletzt auch »nach Hause« wollte. Das ist mittlerweile allerdings ebenfalls verkauft. Selbst wenn sie völlig gesund wäre, gäbe es für sie kein Zurück in eines dieser »Zuhause«.
– Mama, das hier ist dein Zuhause.
Sie zuckt kurz. Der Vorwurf in ihrem Blick beginnt zu bröckeln. Sie tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen. Es geht darum, Verantwortung für die eigenen Eltern zu übernehmen. Und es geht um die Grenzen des Möglichen und um eine letzte nötige Abgrenzung. Ich bin Mitte vierzig, und doch fühlt sich das alles noch mal an wie die vielleicht letzte Stufe des Erwachsenwerdens. Auch wenn ich daran und dadurch sicher wachse, könnte ich auf das eine oder andere ganz gut verzichten.
– Wann geht noch mal der Zug?
– Mama, es gibt keinen Zug, das hier ist dein Zuhause!
– Das sagst du so.
Ja, das sage ich so. Was soll ich sonst sagen? »Alles wird gut«? Oder: »Schön, dann fahren wir mal«? Oder: »Komm zu uns nach Berlin, dann arbeite ich eben nicht mehr und leiste dir den ganzen Tag Gesellschaft«? Diese Hilflosigkeit macht mir ein schlechtes Gewissen, und über mein schlechtes Gewissen ärgere ich mich noch mehr. Das schlechte Gewissen war ein Teil meiner Erziehung. Keine Ohrfeigen, aber das klar vermittelte Gefühl, dass ich enttäuscht hatte, wenn ich eine Erwartung meiner Eltern nicht erfüllen konnte oder wollte. Spätestens seit meinem 13. Lebensjahr reagiere ich darauf allergisch, was aber auch bedeutet, dass ich gegen diese Methode nicht ganz immun bin.
Ich umarme also meine Mutter und gehe mit genau diesem schlechten Gewissen. Ich weiß – auch das von Nehen –, dass sich der Wunsch von Menschen mit Demenz nach ihrem »Zuhause« weniger auf einen konkreten, einstmals bewohnten Ort als vielmehr auf die diffuse Sehnsucht nach einer heilen Welt bezieht. Als man das in England einmal im größeren Stil untersuchte, stellte man fest, dass Menschen mit Demenz, die man in ihre früheren Wohnungen oder Häuser brachte, sich nicht besser fühlten und sich dort oft nicht einmal mehr zurechtfanden.
Mittlerweile mischt sich auch das Amtsgericht und damit der Staat in unsere Beziehung. Es geht um die offizielle Betreuung. Mein Bruder und ich sind uns sofort einig, die Verantwortung teilen zu wollen. Während ich von Berlin aus den Schreibkram mit Ämtern und Versicherungen erledige und einmal im Monat nach Warendorf fahre, ist mein Bruder mit seiner Frau häufiger und bei Bedarf auch kurzfristig vor Ort. Dass er jetzt insgesamt stärker in die Betreuung eingebunden ist, weil unsere Mutter eher aus Zufall in seiner Nähe lebt, ist eine etwas seltsame Wendung der
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