Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
letzten Besuch noch erinnern konnte, ist weg. Doch auch manches, was bei meinem letzten Besuch weg war, ist wieder da. Professor Nehen aus Essen erklärte das mit der jeweiligen aktuellen Befindlichkeit. Wenn sich die Vorstellungen meiner Mutter ohnehin um ihre Familie oder gar ihre Kinder drehen, ist die Chance, dass sie mich erkennt, wesentlich größer, als wenn ihre Gedanken um ein ganz anderes Thema kreisen und sie vielleicht sogar noch bedrückt oder ängstlich ist.
Meine hartnäckigen Fragen sind ihr, so fürchte ich, keine große Hilfe. Sie gleichen einem Verhör, oftmals verstärken sie ihre Unruhe, ihre stille Verzweiflung, ihre offensichtlichen Anstrengungen, die Verluste zu vertuschen. Wo noch Erinnerungen vorhanden sind, scheint meine Mutter die Erosion ihres Gedächtnisses umso schmerzhafter zu spüren. Das Noch-Vorhandene macht das, was fehlt, umso deutlicher. Die Spannungen zwischen den vermeintlichen Ankern und den Fliehkräften ihrer schwindenden Erinnerungen müssen gewaltig sein. Wie hält sie das aus? Ein Teil ihrer Angst wird zu meiner Angst, und ein Teil meiner Angst wird zu ihrer Angst.
– Ist das mit deiner Vergesslichkeit besser geworden?
– Nein.
– Ist ja nicht so schlimm.
Nein, es ist nicht »so schlimm«, es ist ein Abgrund, ein Drama, eine verdammte Katastrophe. Wir stapfen durch den Matsch. Ihre Schritte sind unsicher. Ich halte sie fest am Arm, bin bereit, sie jederzeit aufzufangen. Die Luft tut gut. Diese Spaziergänge sind auch eine Form der Kommunikation. Wir gehen gemeinsam, sie kann sich auf mich verlassen. Ich spüre ihre Sorgen, zeige ihr, dass ich da bin. Vom Himmel nieselt es auf uns herab. Meine Mutter bleibt stehen, schaut sich um, schaut mich fragend an.
– Was für eine Stadt ist das hier?
Ich erkläre es ihr. Sie scheint zu verstehen, was ich sage, aber nicht, was ich meine.
Früher, das heißt bis vor etwa einem Jahr, war sie es, die mich immer etwas fragte, die teilhaben wollte an meinem Leben und sich immer wieder nur halb ironisch beklagte, »man müsse mir alles aus der Nase ziehen«.
Nachdem ich in der Pubertät gelernt hatte, dass die eine oder andere Wahrheit auch gegen mich verwendet werden konnte, bekam ich ein Gespür dafür, was ein guter und was ein eher schwieriger Gesprächsstoff war. Während ich kleinere Probleme noch mit ihr erörterte, mache ich die größeren bis heute eher mit mir selbst aus. Das war die Zeit, als für mich aus »Mama« »Mutter« wurde. Aber im Grunde erzählte ich ihr gern von mir, freute mich, wenn sie sich mit mir freute, und genoss, auch wenn es mir manchmal zu weit ging, ihr Interesse an meinem Leben. Mein Bruder und ich waren mit unseren kurvigen, nicht immer voll und ganz aufgehenden Lebensentwürfen auch für ihr Glück verantwortlich. Das war nicht immer einfach für uns und für sie. Ihre Vorstellungen von einem guten Leben waren andere als unsere.
Ich weiß nicht, ob sie sich nicht mehr dafür interessiert oder ob sie Angst hat, dass die Informationen sie überfordern könnten, dass sie sie nicht mehr einfügen kann in einen Rahmen, der sich auflöst. Ich vermisse ihre Anteilnahme und muss mir eingestehen, dass in »Mutter« noch sehr viel »Mama« steckt und wohl immer stecken wird.
– Alles vergeht so schnell, das, was selbstverständlich ist, dass man Eltern hat …
Das Ende ihres Satzes bleibt offen. Ich weiß nicht, ob sie von sich oder von mir spricht.
– Wärst du lieber noch mal Kind?
– Ich weiß nicht, wie das wäre.
Meine Mutter kämpft darum, ihre kleiner werdende Welt zusammenzuhalten, sie aus den verbliebenen Bruchstücken immer wieder neu zusammenzusetzen, Erklärungen zu finden für Dinge, die sie nicht mehr einordnen kann. All die neuen Menschen um sie herum im Heim. Die fixe Idee, sie sei in einem Hotel, auf einer Kreuzfahrt oder mit einer Reisegruppe unterwegs … Einmal, als ich sie anrufe und der Pfleger meiner Mutter, die auf dem Flur sitzt, den Hörer weiterreicht, erzählt sie mir, sie befände sich in einer Gerichtsverhandlung, würde gleich aufgerufen und könne nicht frei sprechen. Sie ist tapfer. Sie beklagt sich nicht. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.
– Hättest du lieber mehr Kontakt?
– Nein, lieber mehr Ruhe.
Sie bleibt stehen, schaut mich an, schaut sich weiter um und fragt: »Wo ist Jörn?« »Hier«, denke ich und ahne den nächsten Abgrund, »direkt neben dir! Ich bin es, dein Sohn, der dir die Schuhe angezogen hat und dafür sorgt, dass du hier
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