Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
die Demenz gelehrt?
– In erster Linie, wie verletzlich unsere Natur ist. Das Wissen darum, dass wir vergänglich sind und dass diese Vergänglichkeit für den Menschen in einer brutalen Weise spürbar werden kann. Aber auch, dass es eine schöne und wichtige Aufgabe ist, denjenigen Personen, die von einer derartigen Krankheit betroffen sind, zu einem würdigen Ende ihres Lebens zu verhelfen und ihren Angehörigen bei der Bewältigung ihres Schicksals beizustehen.
Lauter denkt dabei vor allem an palliative Maßnahmen, die nicht auf eine Heilung, sondern auf eine Reduzierung der belastenden Folgen der Demenz zielen. Das Gespräch nähert sich dem Ende. Lauter drückt mir noch ein paar Aufsätze in die Hand. In einem davon finde ich die Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann, die am Anfang dieses Buches steht. Und ich denke noch einmal an den fröhlichen Rechtsanwalt, der auf seinem Balkon die Sonne genießt. Das ist ein schönes, fast schon tröstendes Bild, das ich auch bei dem festen Händedruck zum Abschied noch im Kopf habe.
Meine letzte Frage.
– Es geht um das Hier und Jetzt, oder?
– Ja, das würde ich auch so sehen. Bei der Begegnung miteinem Menschen mit Demenz geht es immer um den Moment. Viel weiter können Sie gar nicht planen. Es geht darum, den Augenblick auszuschöpfen.
Erinnerungen VI
»Verhielten sich die amerikanischen Soldaten euch gegenüber feindselig?«
»Nein, nein. Vorher hatte ja jeder Angst, und dann waren die sehr mitfühlend und gar nicht böse. Höchstens wenn die vielleicht wussten, du bist Nazi gewesen, glaube ich. Wir hatten auch eine sehr hübsche Nachbarin, die war vielleicht zwanzig Jahre alt. Die wurde natürlich besonders hofiert von den jungen Soldaten. Die kriegte auch immer was geschenkt. Und unsere Männer haben auch immer Zigaretten gekriegt oder so.«
Sie macht eine Pause.
»Ich kann mich auch noch erinnern im Krieg … da waren, das muss auch am Ende gewesen sein, wo es gar nichts mehr zu essen gab. Da gab es im Gasthof Adler vom Deutschen Roten Kreuz Butterbrote. Da war ich acht oder vielleicht auch schon neun Jahre alt. Meine Mutter, Tante Gerda und ich mussten Papas Feldpostnummer aufsagen. Die wussten die aber gar nicht. Nur ich! Das wurde dann erzählt: ›Stellt euch mal vor, unsere Ingrid, die Kleine, die wusste die ganze lange Nummer auswendig!‹«
»Hattest du mit den amerikanischen Soldaten direkt zu tun?«
»Nein. Die waren erst mal auch sehr wachsam, weil da ja noch viele Bekloppte ihre letzte Munition verschossen.«
»Wie?«
»Ja, da waren doch immer noch Leute, die Widerstand leisteten. Ich kann mich bei uns da nicht direkt daran erinnern. Aber man hat das ja immer gehört und gelesen.«
»Und sonst?«
»Zu Kindern waren die Amerikaner ganz lieb. Und als meine Mutter so weinte, hat der Soldat sie ganz vorsichtig gestreichelt. Sie hatte ja auch den kleinen Jungen auf dem Arm. Das hat sie immer wieder erzählt. Wir wussten ja nicht, wohin, als sie unser Haus beschlagnahmten. Aber wir haben Schokolade gekriegt. Ich weiß nicht, ob wir sonst auch Essen gekriegt haben. Das kann ich gar nicht sagen. Und das Nachbarmädchen und ich haben auf dem Klo Hippenranken geraucht. Aber das muss später gewesen sein. Ich war ja erst neun Jahre alt.«
»Wie lange waren die amerikanischen Soldaten in eurem Haus?«
»Vielleicht eine Woche. Dann haben die was Besseres gefunden. Sieh mal, hinterher habe ich mir das auch mal so vorgestellt. Die kommen in so eine Stadt. Die haben zwar so Pläne, aber wie das da genau ist, wissen die ja auch nicht. Man muss sich ja auch erst mal orientieren. Ich weiß nicht, wo die hinterher hin sind. Auf jeden Fall blieben wir, bis sie das Haus geräumt hatten. Das sah natürlich total verdreckt und verspeckt aus. Aber, naja. War ja nicht so schlimm. Wir waren alle erleichtert.«
Sie weiß nicht, wer ich bin
Wir sitzen in ihrem Zimmer. Auf dem Tisch steht der digitale Bilderrahmen, den wir meiner Mutter geschenkt haben. Gut hundert Fotos, die in zufälliger Reihenfolge jede Minute wechseln. Familienfeiern, Urlaube, lachende Gesichter … schöne Bilder. Zu jedem einzelnen Bild könnte ich eine Geschichte erzählen. Glückliche Tage mit meiner glücklichen Mutter. Einige Fotos sind kaum drei Jahre alt. Eine Zeit, in der die Veränderungen im Gehirn meiner Mutter schon weit fortgeschritten gewesen sein müssen.
– Alt werden ist nicht schön.
Meine Mutter sitzt in ihrem tiefen Sessel, schaut aus dem Fenster. Der Satz kommt
Weitere Kostenlose Bücher