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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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plötzlich und ungefragt. Draußen hoppelt ein Hase über die Wiese. Meine Mutter seufzt.
    – Aber was will man machen. Man kann sich da nur erschießen.
    Sie wirkt konzentriert und klar. Das macht es nicht leichter.
    – Willst du dich erschießen?
    Eine spontane Frage. Ich erschrecke, als mir bewusst wird, was jetzt kommen könnte. Meine Mutter reagiert zum Glück sehr schnell.
    – Nein.
    Auf der Wiese begegnet der Hase einem anderen Hasen. Ich weiß nicht, ob meine Mutter sie wahrnimmt.
    – Man hat vieles gesagt, dass man so und so nicht leben will. Ich auch. Aber wenn es so weit ist, hängt man doch dran.
    Ich bin sprachlos und froh und nehme ihre Hand. Sie ist warm. Ich drücke sie. Meine Mutter drückt zurück und schaut weiterhin auf die Wiese. Die Hasen sind verschwunden. Meine Mutter hängt am Leben, auch wenn es geradenicht leicht ist. Ich nehme das als eine Lehre. Im Bilderrahmen erscheint ein süßes Foto von Mascha.
    – Weißt du noch, wer das ist?
    Ich möchte das Thema wechseln. Meine Mutter überlegt.
    – Die Schwester deiner Frau.
    Ich bin sprachlos. In den letzten Jahren gab es für meine Mutter wohl kaum einen Menschen, der ihr wichtiger war als ihre Enkelin. Auf dem Foto, das jetzt schon wieder verschwindet, ist Mascha eindeutig zu erkennen. Ich bleibe sprachlos.
    – Ich habe Angst.
    – Wovor?
    – Vor der Schule.
    Ich hole tief Luft. Das ist kein guter Tag heute. Das Gedächtnis ist ein Wald, die Bäume sind die Erinnerungen, heißt es. Und die Demenz raubt diesem Wald die Bäume. Je mehr Bäume allerdings am Anfang da sind, desto weniger fallen die Verluste vorerst ins Gewicht. Deswegen sind geistige Anregungen und soziale Erfahrungen, aus denen immer neue Bäume entstehen, ein wichtiger Schutzwall gegen die Demenz. Doch meine Mutter, so scheint es mir, steht mitten auf einer größer werdenden Lichtung.
    – Hausaufgaben nicht gemacht?
    – Wir haben keine auf.
    – Mhm.
    – Ich habe Angst, dass ich dem nicht gewachsen bin.
    Es fällt mir nicht schwer, das zu übersetzen. Ich nehme meine Mutter in den Arm. Sie lässt es geschehen. Ihr Körper bleibt angespannt. Sie fokussiert ein Foto von Mascha auf ihrer Kommode.
    – Mascha.
    Sage ich vorsichtig. Sie starrt weiter auf das Foto.
    – Du weißt doch, wer Mascha ist …
    – Mascha …? Nein.
    – Deine Enkelin Mascha. Erinnerst du dich nicht mehr?
    – Aber natürlich erinnere ich mich. Wie kannst du das nur fragen. Wie könnte ich die denn vergessen?!
    Eine Pflegerin bringt das Abendessen. Ich bleibe noch. Meine Mutter bedient sich selbst, hat die Herausforderung motorisch weitgehend im Griff und bietet mir an, ihre Mahlzeit zu teilen. Ihre Fürsorge rührt mich. Im Bilderrahmen erscheint noch einmal die dreijährige Mascha auf einem Pony. Meine Mutter lächelt.
    – Die ist süß, die Mascha.
    Vielleicht, denke ich, sollte ich nie wieder nach ihr fragen.
    Als ich meine Mutter das nächste Mal besuche, regnet es. Trotzdem schlage ich vor, an der frischen Luft spazieren zu gehen. Sie ist sofort einverstanden. Die Wege sind matschig. Ich hole ihre dicken Wanderschuhe, will ihr helfen, sie anzuziehen. Sie bittet mich, ihr ein elegantes Paar Sommerschuhe zu holen. Ich rate ab. Sie besteht auf ihren Sommerschuhen. Ich lehne ab. Sie wird wütend.
    – Du sollst nicht immer über mich bestimmen!
    Dafür habe ich kein Verständnis und werde sauer. Das wäre jetzt ein passender Moment, ihr die Schuhe vor die Füße zu schmeißen und mit einem »dann mach doch alleine« den Raum zu verlassen. Ich denke nur kurz daran.
    Zwischen ihrer Wut und meinem Unverständnis öffnet sich ein Graben, über den wir beide erschrecken. Nach ein oder zwei Minuten des Schweigens ist sie bereit, die dicken Schuhe anzuziehen.
    – Weißt du noch, wo du die gekauft hast?
    – … Nein.
    Immer wieder stelle ich ihr Fragen, will mich vergewissern, an welchem Punkt des Vergessens sie steht, was sie noch weiß, was noch übrig ist. Und immer wieder suche ich bei meiner Mutter nach Erinnerungen, in denen wir beide vorkommen und über die wir sprechen können. Die Sehnsucht nach Ankern, die ihre Reise ins Vergessen aufhalten oderzumindest bremsen könnten. Anekdoten aus meiner Kindheit, Lieblingsessen oder auch nur ein Lied …
    Die Demenz verläuft nicht gleichmäßig. Es gibt Phasen mit geringeren und Phasen mit größeren Verlusten, manchmal auch eine längere Stagnation und sogar kurzzeitige Besserungen. Manches, an das sie sich bei meinem

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