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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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vielleicht das linke Knie weh, aber dem Bauch geht es gut, das Gespräch ist schön, und dann sage ich »Mir geht es gut«. Das ist ja letztlich auch etwas Aufgesetztes, ein Schlaglicht und nicht das Gesamtbild. Abhängig von der Situation können die Bemerkungen der Patienten über sich und andere oft treffen wie die Faust aufs Auge, und bei nächster Gelegenheit kommt nichts, was man in eine vernünftige Beziehung setzen könnte.
    – Welchen Trost kann es geben?
    – Dass ganz demokratisch alle dement werden. Es sei denn, jemand macht Dummheiten und stirbt vorher an was anderem.
    Förstl erzählt, dass das Nervensystem eines Menschen mit Demenz bis zuletzt aktiv ist und dass jedes einzelne Neuron mit seiner Identität zu tun hat.
    – Unser Erlebnis der Gegenwart setzt sich meiner Meinung nach aus der kollektiven Funktion aller noch vitalen Neuronen zusammen. Ein bedeutsamer Teil ist natürlich beim dementen Menschen zerstört worden. Aber der Rest veranstaltet noch ein ganz großes Konzert; auch bei kleinerer Besetzung ist das Musikstück noch komplett erhalten.
    Unwillkürlich denke ich an meine Mutter und dann an die Musik von John Cage, für den auch die Stille zur Musik gehörte. Förstl lehnt sich zurück und schaut zur Uhr.
    – Das ist das biologische Substrat unserer Identität, unseres Ich-Erlebnisses, unserer Gegenwart.
    Förstl muss sich wieder den Herausforderungen des Klinikalltags stellen. Er bringt mich zur Tür.
    – Ich habe das Gefühl, viel von meiner Mutter zu lernen.
    Er nickt.
    – Demenz birgt nicht nur die Chance, Menschen zusammenzubringen, sondern auch das menschliche Leben und den menschlichen Geist tiefer zu verstehen.

Erinnerungen VII
    »Habt ihr was von der Judenvernichtung mitgekriegt?«
    »Ich glaube, meine Mutter hat immer davon gesprochen. Ich will es nicht behaupten. Egon behauptet nämlich, da hätte er gar nichts von gewusst, und er ist ja im Krieg gewesen. Also, da bin ich auch nicht so ganz sicher …«
    Sie macht eine Pause.
    »Doch, ich weiß das von den Juden!«
    Sie klingt selbst überrascht.
    »Sicher weiß ich was. Ich ging mit meiner Mutter in die Stadt. Da waren eine Frau und ein Mädchen, die hatten einen Judenstern am Mantel. Und da hat meine Mutter gesagt, ›Das sind Juden.‹ Nicht abwertend, aber auch nicht ›die armen Juden tun uns leid‹. Einfach: ›Das sind Juden, die müssen das tragen.‹ Aber die Reichskristallnacht oder so, da war ich eigentlich noch zu klein. Das wurde vielleicht von den Erwachsenen erzählt. Wenn die flüsterten, war ich immer besonders hellhörig und bin noch ein bisschen näher hingegangen. Meine Mutter arbeitete ja als Verkäuferin bei Kornblum, das waren Juden. Und die … Ob die abgehauen sind, weiß ich nicht. Hinterher war ein anderer in dem Laden.«

Ärger im Heim
    – Wir müssen uns um Muttis Beerdigung kümmern.
    Meine Mutter begrüßt mich mit einem Auftrag. Sie scheint froh zu sein, ihn weitergeben zu können. Ich weiß allerdings nichts damit anzufangen. Sie hat in der letzten Zeit immer wieder von ihrer Mutter gesprochen, aber nie von deren Beerdigung.
    – Was müssen wir?
    – Die Beerdigung von Mutti! Wir brauchen doch einen Sarg!
    So, wie sie spricht, hat sie es offensichtlich mit einem Trottel zu tun.
    – Was ist denn passiert?
    – Was passiert ist? Meine Mutter ist gestorben!
    Ihre Antwort ist ein Vorwurf, den ich mir nicht machen lassen möchte.
    – Aber deine Mutter ist doch schon seit über dreißig Jahren tot!
    Meine Reaktion ist spontan, was ich sage, stimmt – und ist komplett falsch. Wie das Einbiegen in eine Sackgasse.
    – Was? Nein …
    – Das hast du vergessen.
    Schon, als ich es ausspreche, merke ich, dass ich gerade einen großen Fehler mache. In einer Sackgasse sollte man nicht noch Vollgas geben.
    – Siehst du, das ist das Schlimme. Das kann man einem dann immer wieder vorwerfen: »Das hast du vergessen. Das hast du vergessen!«
    Wir stehen vor der Wand. Ich habe uns hier reingefahren, kann nicht wenden und finde den Rückwärtsgang nicht. Meine Mutter ist entrüstet und entsetzt. Über den Tod ihrer Mutter, meine Ignoranz und wohl auch über die Ahnung, dass sie den Überblick über ihr eigenes Leben verliert. Ich bin ratlos und schweige. Nach ein paar Minuten erinnert sich meine Mutter nicht mehr an den Vorfall, und ich schätze es, dass das schnelle Vergessen auch mal ein Vorteil sein kann.
    Sie wackelt mit ihrem Arm.
    – Was machst du?
    – Gar nichts.

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