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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Entspannungsübungen.
    Schön.
    – Ich weiß jetzt, wie wir das machen, mit der Demenz.
    – Wie denn?
    Ich bin hellwach. Sie überlegt.
    – … hab ich vergessen.
    Sie schaut irritiert, aber nicht allzu bekümmert. Sollte das ein Witz sein? Obwohl ich das nicht glaube, muss ich lachen. Überhaupt wird das noch ein eher lustiger Tag. Ich schlage vor, mich darum zu kümmern, dass ihre Gehörgänge ausgespült werden. Eine Routinemaßnahme, die auch vor der Demenzdiagnose immer mal wieder nötig war.
    – Na, da bin ich mal gespannt, was danach kommt.
    Sie grinst. Dann fragt sie sich laut, ob sie sich vielleicht noch mal verlieben werde.
    Ein paar Wochen später bekomme ich einen Anruf aus dem Heim, dass meine Mutter auf die geriatrische Station einer nahen Klinik verlegt werden soll. So wurde es gemeinsam mit dem Hausarzt beschlossen, allerdings ohne meinen Bruder oder mich als ihre offiziellen Betreuer zu Rate zu ziehen. Das Vorgehen irritiert uns. Meine Mutter sei nicht mehr zu führen, wäre renitent und gar handgreiflich geworden. Die Verlegung diene einer umfassenden medizinischen Abklärung mit dem Ziel, sie medikamentös besser einzustellen. Das klingt nicht gut und ist für meinen Bruder und mich nicht nachvollziehbar. Wir sind froh, dass es dieses Heim gibt. Ich versuche, nicht zu kritisch mit denjenigen zu sein, die sich um meine Mutter kümmern. Ich begegne den Pflegern, wo es nur geht, mit Verständnis und Dankbarkeit in dem absurden Wunsch, dass im Gegenzug mein schlechtes Gewissen gelindert wird, ja dass ich vielleicht sogar Vergebung dafür erfahre, dass ich meine Mutter nicht selbst pflege. Und ich vermeide direkte Kritik, weil ich Angst habe, dass meine Mutter es eventuell ausbaden muss. Das sind keine guten Voraussetzungen. Und natürlich funktioniert das nicht.
    In den ersten Wochen und Monaten hatte sich meine Mutter noch ein paar Mal einfach ihren kleinen Rucksack aufgesetzt und ist unbemerkt raus in den Park oder weiter ins Dorf gelaufen. Jedes Mal hat sie sich verirrt, bis sie von den Pflegern gefunden wurde. Manchmal wurde sie auch von ein paar Kindern zurückgebracht. Immer häufiger wirkten diese Spaziergänge auf mich wie kleine Fluchtversuche. Irgendwann versteckten Pflegerinnen den Rucksack, um den Impuls zur Wanderschaft zu unterdrücken. Auch das wurde von meinem Bruder und mir vor allem mit Skepsis registriert.
    In den normalen Arbeitsstrukturen eines Heims gibt es kaum Kapazitäten für betreute individuelle Spaziergänge. Und offensichtlich schieben einige der Pflegerinnen meine Mutter bevorzugt in einem Rollstuhl umher, anstatt sie, was mühsamer und zeitaufwendiger ist, beim Gehen zu unterstützen. Schätze ich die Situation falsch ein, bin ich zu anspruchsvoll, ist mein Blick auf den Zustand meiner Mutter zu positiv?
    In der Klinik benimmt sie sich völlig unauffällig. Der behandelnde Arzt weiß nicht, was er an der medikamentösen Dosierung ändern soll. Nach zwei Wochen kommt meine Mutter zurück in ihr Heim. Auf einem »Spaziergang« bleibe ich mit ihr im Flur vor den Fotos der Stationsmitarbeiter stehen. Ich frage sie, mit wem sie den Ärger hatte, der zuder Überweisung in die Klinik führte. Demenz hin oder her – meine Mutter zeigt auf das Foto der Frau, die ich bereits »im Verdacht« hatte. Sie bittet mich, mit niemandem darüber zu sprechen. Das ist für meinen Bruder und mich der Auslöser, ein neues Heim zu suchen. Meine Mutter ist einverstanden. Doch es dauert Monate, bis wir einen Platz in einer Einrichtung in der Nachbarschaft meines Bruders bekommen.
    Auch in Berlin hatte ich mich umgekuckt, obwohl meine Mutter immer wieder gesagt hat, dass sie hier nicht herziehen will. Aber würde sie davon jetzt überhaupt noch etwas mitbekommen? Außerdem könnten meine Familie und ich sie hier viel öfter besuchen. Die Berliner Mentalität ist allerdings eine andere als die westfälische, und so etwas, da bin ich mir sicher, spürt meine Mutter.
    Letztlich verwerfen wir diese Idee aber, auch weil uns das eine Heim in der Nähe meiner Wohnung nicht gefällt, während das andere schlichtweg zu teuer ist. Ein etwas schwieriges Thema. Meine Mutter hat Ersparnisse, die wir für ihr Heim nutzen, da ihre Rente und ein monatlicher Zuschuss aus Egons Erbe bei Weitem nicht für die laufenden Kosten ausreichen. So schwingt bei ausführlicheren Kalkulationen über die finanzielle Situation meiner Mutter immer auch eine Kalkulation über ihre Lebenserwartung mit, weshalb wir solche

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