Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Rechnungen nie weiter vertiefen. Wir lassen es auf uns zukommen, dass in ein paar Jahren wir für den monatlichen Restbetrag aufkommen werden müssen.
Nachdem ich meiner Mutter noch einmal die Hintergründe ihres anstehenden Umzugs in groben Zügen erläutert habe, fragt sie, ob ihr neues Domizil zu einer studentischen Verbindung gehört.
– Nein.
– Ach so.
Meine Antwort trägt sie zum Glück mit Fassung. Danach Stille, Ratlosigkeit und Unruhe. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Bevor der Vertrag unterschrieben wird, bekommt meine Mutter Besuch von einem Sozialarbeiter der neuen Einrichtung, der sich einen persönlichen Eindruck machen möchte. Das irritiert mich, irgendwie fühlt sich das an wie ein Bewerbungsgespräch. Ich möchte gern einen guten Eindruck machen. Genau genommen geht es natürlich um den Eindruck, den meine Mutter hinterlässt. Da sie aber nun mal eine Demenz hat, sind mir die Kriterien dafür nicht ganz klar, und das verunsichert mich zusätzlich. Immerhin fällt sie keine Leute an und hat auch keine Tendenz, unbekleidet über die Station zu flanieren oder dergleichen. Doch wie sähe die Sache aus, wenn sie so ein schwieriger Fall wäre, jemand, der rumschreit, dem die Demenz die Schaltzentrale für alle möglichen Hemmungen zerstört hat?
Der Mann, der dann schließlich kommt, macht allerdings einen entspannten Eindruck. Markus Kübler ist Mitte dreißig und hat die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Meine Mutter ist ebenfalls recht entspannt. Bei einigen Antworten helfe ich ihr. Als ich dabei meinen Vater, also »den Mann meiner Mutter«, erwähne, kichert sie über meinen vermeintlichen Scherz und stellt klar, dass natürlich ich ihr Ehemann sei.
Anschließend erkundigt sich Kübler noch bei den Pflegern, bespricht sich mit der Leitung seines Heimes und teilt uns dann mit, dass wir den Umzug planen können. Ich bin erleichtert und hoffe, dass dieser Schritt meiner Mutter gut tun wird.
Später sortiere ich ihren Kleiderschrank. Sie sitzt am Tisch, sagt etwas, was ich nicht verstehe, und schaut dabei zu Boden.
– Kann ich dir helfen?
– Ich muss doch meinen Kleinen noch fragen, was er will.
Und wieder mal habe ich keine Ahnung, was sie meinen könnte. Es gelingt mir immer seltener, einen realen Bezug, eine Logik hinter ihren überraschenden Ideen, Fragen und Sorgen zu finden. Oft fehlt mir dazu die Fantasie, und so scheitere ich regelmäßig dabei, mich auf sie einzulassen, ihr entgegenzukommen in ihrer »anderen Welt«.
– Hast du einen Hund, mit dem du sprichst?
– Nein! Meinen Sohn.
Das könnte wieder mal bitter werden.
– Wie heißt denn dein Sohn?
– Jörn.
Ich muss schlucken.
– Und wie alt ist er?
– Sieben oder acht.
Meine Mutter ist sich da ganz sicher.
– Ist der eher süß oder eher frech?
Frage ich.
– Eher süß.
Immerhin.
– Und was glaubst du, wer ich bin?
Sie schaut mich an.
– Das hat mir noch niemand erklärt.
Es ist so weit, denke ich und verweigere den bescheuerten Satz »Aber Mama, ich bin doch dein Sohn!« Wozu auch? Ich weiß es ja, und du wirst es mir entweder nicht glauben, oder wirst dich sehr erschrecken und es mir deswegen vielleicht auch gar nicht glauben wollen, denn wenn du mir glaubst, dass du mittlerweile nicht mehr weißt, dass ich dein Sohn bin, musst du den Abgrund anerkennen, an dem du stehst. Und wenn du es dann doch merken und akzeptieren solltest, wirst du es kurz darauf wieder vergessen haben.
Alles in allem ist das wohl so was wie eine klassischeLose-lose-Situation. Denk doch, was du willst, schießt es mir durch den Kopf. Denk vielleicht einfach, ich bin der nette Besucher, dessen Gesicht, dessen Stimme dir irgendwie vertraut vorkommen. Und irgendwann wirst du vielleicht das Gefühl haben, das ist ein Besucher, den du noch nie gesehen hast. Ich hoffe, wir haben noch etwas Zeit bis zu diesem nächsten »irgendwann«. Denn es wird mit Sicherheit kommen. Und ich hoffe noch mehr, dass du mich, diesen unbekannten Neuen, dann doch irgendwie sympathisch findest. Und wenn nicht? Ja, dann wird es ein bisschen schwieriger.
Sie ist wieder eingeschlafen, und ich muss zum Zug. Wird sie beim Aufwachen meine Abwesenheit bemerken? Wird sie sich überhaupt erinnern, dass ich heute bei ihr war? Ich wecke sie dann doch, um mich zu verabschieden. Sie lächelt.
Die Erinnerung daran schützt mich eine Weile vor der Traurigkeit.
»Glückliche Menschen mit Demenz«
Der Sozialarbeiter Markus
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