Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
ohne Demenz klingt das nach einer großen Neuronenverwüstung, einer Art Dreißigjährigem Krieg, dem unsere Gehirne ausgeliefert sind.
– Bei der Demenz geht das aber über das normale Maß hinaus. Die Verbindungen gehen viel schneller verloren. Das Netz wird immer löchriger und löst sich mehr und mehr auf.
Mit Demenz klingt es wie ein Neuronenmassaker, ein Dreißigjähriger Krieg mit Massenvernichtungswaffen. Mein Versuch, mich mit Sarkasmus zu schützen, hilft allerdings nur bedingt.
– Was muss passieren, damit Sie sich noch möglichst lange an meinen Besuch erinnern?
– Am besten würde etwas Überraschendes passieren, etwas, was mit möglichst starken Gefühlen verbunden ist. Egal ob das jetzt gute oder schlechte Emotionen sind. Wenn dies zum Beispiel der doofste Tag meines Lebens wird, stehen die Chancen, dass ich mich da noch lange dran erinnern werde, sehr gut.
Noch bevor ich mögliche Beiträge meinerseits dazu durchgehen kann, eröffnet Pohl eine andere Option.
– Es wäre aber auch schon nicht schlecht, wenn ich durch unsere Begegnung auf einen neuen Gedanken oder eine neue Perspektive stoßen würde.
– Würden Sie sich gern an alles erinnern können?
– Nein, natürlich nicht. Das wäre eine Katastrophe. Es gibt die Geschichten von fünf oder sechs Menschen aufdieser Welt, die darunter leiden. Zum Beispiel von einem Russen, der wahnsinnig wurde, oder eine Amerikanerin, die ihr Gedächtnis als ein »Tonband ohne Stopptaste« erlebt. Die würde das sehr gern abstellen.
Die Frau heißt Jill Price. Sie ist fünfundvierzig Jahre alt und kann sich an jeden Tag ihres Lebens seit dem Februar 1980 erinnern. Immer noch forschen Mediziner nach einer Erklärung für dieses Phänomen. »Die Bilder in meinem Kopf kann man sich wie einen vielfach unterteilten Fernsehschirm vorstellen«, erklärte sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung . »Dort laufen in einer Endlosschleife Filme parallel ab. Als hätten Kameras Episoden meines Leben aufgenommen, die nun zugleich abgespielt werden.« Meist gelänge es ihr, den Bildern keine Aufmerksamkeit zu schenken. Nützen würde ihr diese Gabe kaum, da sich die kompletten Erinnerungen vor allem auf autobiografische Erlebnisse beziehen, nicht aber auf historische Daten aus dem Schulunterricht, auf Gedichte oder Einkaufslisten. »Ich habe Dinge noch nicht verarbeitet, die dreißig Jahre her sind. Das wird immer extrem schwer für mich sein.«
Dass Vergessen auch eine Gnade sein kann, wurde mir spätestens bei meinem ersten Liebeskummer bewusst, als ich zu meiner Überraschung irgendwann doch noch mal wieder an etwas anderes denken konnte. Abgesehen davon, dass man nicht allzu viele unangenehme Erlebnisse allzu lange mit sich rumtragen möchte, ist der Abschied von so mancher Erinnerung auch eine gehirnökonomische Notwendigkeit. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich eingestehen, dass vielleicht nicht alle meine Erlebnisse so wichtig waren. Nietzsche sagte dazu: »Nur durch das Vergessen erhält der Geist die Möglichkeit der totalen Erneuerung.« Meine Mutter kann er damit allerdings nicht gemeint haben.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, für jede neueErinnerung eine alte bewusst abgeben zu müssen. Das könnten schwierige Entscheidungen werden. Allerdings wäre mein Gehirn dann auch etwas aufgeräumter. Ich muss dabei an mein Arbeitszimmer denken, meinen Vorsatz, es nicht zu überladen, für alles, was ich neu reinstelle, etwas anderes wegzuwerfen. Das gelingt nicht immer. Eigentlich gelingt es nur sehr selten. Fasziniert bin ich dabei von der Idee eines lebensnahen Minimalismus. Menschen, denen es gelingt, mit nur dreihundert oder gar hundert persönlichen Besitztümern auszukommen. Was wären, nun wieder zurückgedacht, meine liebsten, oder soll ich sagen dreihundert wichtigsten Erinnerungen? Die eindrucksvollsten hundert? Oder gar die Top Ten? Schon bei dem Gedanken rattern glücksbesetzte Bilder aus meinem bisherigen Leben durch mein Gehirn. Liebe, Familie, überstandene Abenteuer, Erfolge …
Und die andere Seite, die düsteren, unangenehmen Erinnerungen? Diese hervorzukramen, ist schwieriger. Und ich gebe mir auch nicht allzu viel Mühe. Allerdings haben mich die enttäuschten Hoffnungen ebenfalls geprägt, die schmerzvollen Niederlagen, der Unfall, bei dem ein naher Freund neben mir starb … Auch diese Erinnerungen leben weiter. Auch sie bereichern mein Leben. Doch sie sind zum Glück weniger präsent.
Die Wissenschaft
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