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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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so traurig und so schön sein.
    Trotz Nachfragen finde ich nicht heraus, wie sie darauf kommt. Aber sie hat recht.
    In den folgenden Tagen und Wochen kriegt mein Vater zur Überraschung aller die Kurve zurück ins Leben. Die Ärzte probieren es doch noch mal mit einer Dialyse, und seine von uns so geschätzte Lebensgefährtin, mein Bruder und ich reden tagelang laut auf den vermeintlich Bewusstlosenein, versuchen ihm klarzumachen, dass es um alles geht, dass sein Leben zu Ende ist, wenn er sich jetzt nicht daran festhält. Er wird sich später nicht daran erinnern können.
    In dieser Zeit kreisen meine Gedanken immer häufiger um einen Satz des französischen Philosophen Roland Barthes: »Alles, was wahrgenommen worden ist, wird umsonst wahrgenommen worden sein.« Barthes bezieht sich dabei nicht auf die Demenz, er versucht mit diesen Zeilen eine sprachliche Annäherung an den Tod. Jonathan Franzen beschreibt als Sohn eines Betroffenen die Demenz als »ein Prisma, das den Tod in seine sonst fest zusammengefügten Teile auffächert«. Der Tod der Unabhängigkeit. Der Tod der Erinnerung. Der Tod des Bewusstseins. Der Tod der Persönlichkeit. Der Tod des Körpers.
    Meine Mutter ist nicht tot. Sie lebt. Immer wieder frage ich mich, was das für ein Leben ist, bei dem sich das Gedächtnis verabschiedet. Wird alles, was wahrgenommen worden ist, umsonst wahrgenommen worden sein? Diese Vorstellung lässt mich nicht los. Die Demenz stellt zu vieles infrage, was mir in meinem Leben wichtig ist.
    Neue Erfahrungen haben mich im Zweifelsfall immer mehr interessiert als materielle Reichtümer. Ja, geht es im Leben nicht darum, Erfahrungen zu suchen, zu machen und zu verarbeiten? Darum, das Leben auszukosten oder – vielleicht noch besser gesagt – es auszuleben? Und darum, sich weiterzuentwickeln, um ein interessanter, respektierter, geschätzter und im Wortsinn auch liebens-werter Mann, Partner, Freund, Vater, Bruder, Sohn, Schwager oder einfach nur Mitbürger zu werden, zu sein und zu bleiben? Um dann zu erleben, wie alles zerbröselt? Die Aussicht, dass meine Erfahrungsreichtümer, die meine einzigen Reichtümer sind, am Ende wegschmelzen wie die Gletscher im Klimawandel … Ich kann nicht einmal sagen, dass mir diese Aussicht Angst macht, weil ich mir das imGrunde gar nicht vorstellen kann. Ich weiß nicht, ob das jetzt Ignoranz oder Selbstschutz oder beides ist.
    »Die Erinnerung«, schrieb Jean Paul, »ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.« Denkste, Jean Paul, denkste!

»Wir sind, was wir erinnern.«
Der Psychologe Rüdiger Pohl
    Das autobiographische Gedächtnis: Die Psychologie unserer Lebensgeschichte heißt ein lesenswertes Buch, das die Forschungsergebnisse zweier Jahrzehnte zusammenfasst. Geschrieben hat es der Mannheimer Psychologie-Professor Rüdiger Pohl.
    Das autobiografische Gedächtnis wird dem deklarativen Gedächtnis zugeordnet, in dem all die Inhalte abgespeichert sind, auf die wir bewusst zugreifen können. Demgegenüber bezieht sich das prozedurale Gedächtnis auf die Fähigkeiten, die wir im Alltag nicht bewusst kontrollieren müssen, wie zum Beispiel Fahrradfahren. Zum deklarativen Gedächtnis zählt neben dem autobiografischen Gedächtnis auch noch das semantische Gedächtnis für eher allgemeine, zeitlose Wissensinhalte, wie wir sie zum Beispiel in der Schule gelernt haben oder in der Zeitung lesen. Das autobiografische oder auch episodisch genannte Gedächtnis verbindet schließlich alle unsere einzigartigen, konkreten, persönlichen, zeitlich datierten Erinnerungen, die wir selbst erlebt haben. Mit Pohls Worten: »Es definiert uns gewissermaßen und verschafft uns Identität.« Oder noch kürzer: »Wir sind, was wir erinnern.«
    Und wenn wir uns nicht mehr erinnern?
    Ich besuche Pohl in seinem Universitätsbüro in einem Flügel des imposanten Mannheimer Schlosses. Ein schlanker, angenehm uneitler Mann Mitte fünfzig.
    –  Ab einem Alter von fünfzig Jahren nimmt das Volumen des Gehirns ab.
    Pohl beschreibt den alltäglichen Alterungsprozesses in unseren Köpfen.
    – Auch die Isolierung der Neuronen lässt nach, das heißt, die Hüllen der neuronalen Weiterleitungen verschwinden. Die Reizweiterleitung wird störanfälliger. Die Sauerstoffversorgung wird schlechter, Zellen sterben ab, auch die Neurotransmitter, die für die Überleitungen bei den Nervenzellen verantwortlich sind, lassen nach. Das ist eine ganze Reihe völlig normaler chemischer Vorgänge.
    Auch

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