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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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die du bereust?
    Ein paar Wochen später. Wir sitzen im Auto.
    – Kann sein … ich kann mich nicht erinnern.
    Wir schauen uns nicht an. Ich achte auf die Straße, und auch der Blick meiner Mutter geht geradeaus.
    – Dinge, auf die du stolz bist?
    – Ja.
    – Und?
    Ich will sie nicht drängen. Sie hat einen anderen Rhythmus. Ich warte, bis ich glaube, dass sie die Frage vergessen haben könnte.
    – Auf was bist du stolz, Mama?
    – Auf was, weiß ich jetzt nicht.
    – Würdest du in deinem Leben etwas ändern wollen?
    Wieder eine lange Pause. Wieder hat sie die Frage vergessen. Nein, hat sie nicht.
    – Ich möchte mich gern an alles erinnern können.
    Ich habe sie abgeholt, um mit ihr in Münster meinen Vater zu besuchen. Der Anlass könnte trauriger kaum sein. Mein Vater liegt auf der Intensivstation der Uniklinik. Nach einer verpfuschten Rückenoperation zehn Monate zuvor ist er vom neunten Brustwirbel ab gelähmt. Das war ein Schock, und neben der Geschichte mit meiner Mutter das zweite Familiendrama innerhalb eines Jahres. Er hat die Herausforderung angenommen, war dabei, sich irgendwie mit einem Leben im Rollstuhl zu arrangieren, ebenfalls in einem Pflegeheim. Vor acht Wochen wurde jedoch eineakut lebensbedrohliche Infektion an der operierten Wirbelsäule entdeckt, welche die Wirbel im Umfeld der Entzündung »in Eiter aufgelöst hatte«, wie uns ein Arzt vielleicht ein wenig anschaulicher als nötig erklärte.
    Nach vier Wochen voller Bangen und Warten, die mein Vater in einem kleinen Krankenhaus verbrachte, in dem die aufwendige Operation nicht vorgenommen werden konnte, hatte sich schließlich die Uniklinik bereit erklärt, ihn aufzunehmen und den Eingriff zu wagen. Es wurden dann zwei Operationen, die insgesamt siebzehn Stunden dauerten und erfolgreich verliefen. Ganz langsam hatte er sich von da an auf der Intensivstation erholt. Seit ein paar Tagen aber verschlechterten sich die Laborwerte dramatisch. Nachdem mein Vater kaum noch Lebenswillen zeigte und immer seltener bei Bewusstsein war, hatten die Ärzte nach seiner Patientenverfügung gefragt und uns gesagt, dass es kaum noch Hoffnung gäbe.
    In diesem Wissen fahre ich meine an Demenz leidende Mutter zu einem Abschiedsbesuch bei meinem weitgehend bewusstlosen Vater. Mein Bruder und ich sind uns nicht sicher, ob das sinnvoll ist, denken aber, dass es die letzte Gelegenheit für eine Begegnung unserer Eltern ist. Auch nach ihrer Trennung hatten sie noch ein insgesamt gutes Verhältnis.
    Meine Mutter reagierte auf die Nachricht gefasst und war sofort bereit mitzufahren. Begreift sie, was los ist? Im Auto fragt sie mich, ob »Mutti Bescheid weiß«. Ich weiche aus, will ihr nicht wieder erklären, dass ihre Mutter seit mehr als dreißig Jahren tot ist. Wozu auch? Dann fragt sie einmal mehr, ob »Jörn da ist«. Als ich den Parkplatz des Klinikums ansteuere, zweifle ich, ob das alles eine so gute Idee war.
    Mago, meine Schwägerin, wartet schon auf uns. Das ist gut. Da mein Vater wegen diverser multiresistenter Keime, mit denen er sich auch noch rumschlagen muss, auf einemIsolierzimmer liegt, müssen wir Kittel, Haube, Mundschutz und Gummihandschuhe überziehen. Ein bizarrer Mummenschanz. Vorsichtig führen wir meine Mutter ans Bett meines Vaters. Im ganzen Zimmer stehen die blinkenden und piepsenden Apparaturen der Intensivmedizin. Meine Mutter kauert auf einem Stuhl. Sie wirkt gefasst und klar, hält die Hand meines Vaters, drückt sie immer wieder. Sie waren über vierzig Jahre ein Paar und sind immer noch verheiratet. Sie redet ihm zu. Keiner im Raum versteht, was genau sie sagt.
    Ich glaube, dass mein Vater mitbekommt, wer da ist. Doch seine Reaktionen sind schwach und schwer zu deuten. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein. Es geht um den Abschied voneinander und um den Abschied von der Welt. Der Raum ist voller Abgründe, und wir halten uns gegenseitig an den Händen. Dass es nur bedrückend und nicht auch noch rührselig wird, liegt an den pragmatischen Auftritten einer resoluten Intensivpflegerin, die regelmäßig alle möglichen Werte abliest und notiert. Nach einer Stunde gehen wir wieder.
    Als wir mit meiner Mutter das Krankenhaus verlassen, schlägt Mago ein Restaurant vor, und wir gehen essen. Meine Mutter macht einen stabilen und wachen Eindruck, auch wenn sie einiges durcheinanderbringt. Trotz allem ist es ein Trost, hier zusammensitzen zu können.
    Auf der Rückfahrt sagt meine Mutter unvermittelt:
    – Das Leben kann

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