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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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selten umsetzen.
    – Das ist eine tägliche Herausforderung. Die Personalressourcen sind in den letzten zehn Jahren definitiv schlechter geworden. Die meisten Pflegekräfte sind gut geschult, und bei dem, was hier insgesamt alles erledigt werden muss, bin ich überrascht, was dann doch im Sinne der personenzentrierten Pflege geleistet wird. Es ist vor allem wichtig, den Betroffenen nicht immer dieeigene Sichtweise überzustülpen. Wer hier zum Beispiel mit Händen essen will, darf das auch tun. Es ist wesentlich entspannter, wenn man die Leute lässt, wie sie sind. Das ist nicht einfach, aber es gelingt.
    Kübler sagt, dass er durch die Begegnungen mit den betroffenen Menschen viel gelernt hat. In erster Linie die Feinfühligkeit und Gelassenheit, die der Umgang mit ihnen erfordert. Ich erzähle ihm die Geschichte mit den Tour-de-France-Karten, bei der meine Mutter meine Lüge bemerkte. Er nickt.
    – Menschen mit Demenz haben ein feines Gespür für Stimmungen. Die merken, wenn man nicht echt ist.
    Eine letzte Frage, es geht um die konkreten Begegnungen mit meiner Mutter. Lauter sprach von der Aufgabe, »den Augenblick auszuschöpfen«. Kübler nickt, als ich ihm davon erzähle.
    – Obwohl bei den Betroffenen die mehr oder weniger großen Bruchstücke der Vergangenheit oft noch sehr präsent sind, leben sie insgesamt schon sehr im »Hier und Jetzt«. Wenn ich ihnen was Gutes tue, fühlen sie sich gut. Das kann nach zehn Minuten aber wieder anders sein. Deswegen bin ich auch nicht so ein Freund von »nachhaltigen« Angeboten wie Ausflügen. Das ist häufig schnell wieder vergessen. Immer wieder vermittelte kleine Freuden scheinen mir da oft sinnvoller.
    Er holt tief Luft.
    – Menschen mit Demenz zwingen einen dazu, einen Gang zurückzuschalten und genauer hinzuschauen.

Erinnerungen VIII
    »Wie war das mit der Kriegsgefangenschaft deines Vaters?«
    »Der kam in dieses riesige Rheinwiesenlager nach Büderich. Da sind viele gestorben, weil die Amerikaner viele Gefangene machten und schon rein platzmäßig gar nicht darauf eingerichtet waren. Da mussten sie sich selbst ein Loch graben und sehen, wie sie zurechtkamen. Die hatten auch erst nicht genug zu essen. Das war im Sommer, mit brütender Hitze. Allein genug Wasser zu bekommen, war schon ein Drama. Und das haben sehr, sehr viele, weil die doch so entkräftet waren, nicht überlebt.«
    »Konntet ihr ihn da besuchen?«
    »Nein, wie denn auch?«
    »Wie lange war er dort?«
    »Ein paar Wochen. Acht Wochen, sagen wir mal. Ja, kann sein.«
    »Habt ihr gehungert nach dem Krieg?«
    »Nein, gehungert haben wir nie. Weil Papa immer gehamstert hat … Ach, einmal ist was Schlimmes passiert. Da fuhr er in ein Dorf, wo er einen Bauern kannte. Und für den hat er hin und wieder was ausgebessert oder so. Papa war ja Elektriker. Dafür konnten wir ein paar Pflaumen oder Äpfel kriegen, ein paar Eier oder Milch für meinen kleinen Bruder Joachim. Einmal ist Papa im Dunkeln Fahrrad gefahren und gestürzt. Da ist die ganze Milch ausgelaufen.«
    Sie schluchzt leise.
    »Mein Vater konnte gut schachern. Manchmal brachte er sogar ein Stück Speck mit. Das war ja was ganz Tolles! Eines Tages schrieb seine Schwester, meine Tante, eine Karte. Telefon hatten wir ja alle nicht. ›Willi, du musst un bedingt kommen!‹ Da gab es ein Vorratslager, das einfach geplündert wurde, weil die Leute so Hunger hatten. Papa ist los und hat da was geholt. Und mit Tante Gerda und Mutti bin ich auch hingefahren. Wir saßen hinten auf einem Lastwagen, so ein Kohlevergaser. Als wir endlich ankamen, waren wir schwarz wie die Neger. Wir mussten über die Weser, und die Brücke war gesprengt. Um sechs oder sieben Uhr abends durftest du nicht mehr auf der Straße sein. Am anderen Ufer stand ein Posten mit Gewehr. Wir mussten irgendwie über diese Brückenreste, und ein Stück davon war nur so ein Brett. So was kann ich ja nicht. ›Ich gehe hier nicht! Ich gehe hier nicht!‹, hab ich gesagt. Und da haben die mich angeschrien: ›Wenn du jetzt nicht gehst, schmeißen wir dich ins Wasser!‹ Sie wollten mir Angst machen, dass ich ging. Als wir auf der anderen Seite angekommen sind, war es schon zehn nach sieben, aber der Posten hat nichts gesagt … Ich krieg das jetzt gar nicht mehr so zusammen. Oder war Papa da gar nicht? Vielleicht hat Papa da auch gehamstert, und wir waren da, als das …«

Wird alles, was wahrgenommen worden ist, umsonst wahrgenommen worden sein?
    – Gibt es Dinge in deinem Leben,

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