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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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höherer Lebensqualität führt. Soll das heißen, »liebe deine Demenz«? Nicht unbedingt, sagt Müller-Hergel. »It’s not a choice of lifestyle.« Egal welches Verständnis man von der Demenz hat, wäre es schön, keine zu bekommen.
    Schließlich berichtet er noch von zwei älteren, ebenfalls von Demenz betroffenen Herren. Während der eine sich verstärkt in seiner gelebten Vergangenheit als SS -Offizier wiederfindet, behält der andere seine jahrzehntelang gelebte Resolutheit als Schiffskapitän bei und gibt seinem Kumpel bei allzu forscher politischer Agitation eins »mit der Mütze«. In so einem Fall, sagt Müller-Hergel, müsse man, wenn nicht mit Verletzungen zu rechnen sei, nicht unbedingt einschreiten. Er nennt das »eine Frage der Mikroethik«.
    Nach dem Vortrag muss er wieder zurück ins Ruhrgebiet, bis Berlin begleite ich ihn in der Bahn. Ich erzähle ihm von meiner Mutter, der Herausforderung, mich auf ihren Zustand einzulassen, meinen Versuchen, mich vor allem auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Er nickt.
    – Ja, das stimmt, wobei man sagen muss, dass unser »Jetzt« anders ist als das »Jetzt« eines Menschen mit Demenz. Bei uns ist es klarer von der Vergangenheit und der Zukunft eingerahmt. Bei einem Menschen mit Demenz ist das fließender. Da verbindet sich immer wieder das Vergangene mit dem Gegenwärtigen und wird manchmal auch verwechselt. Und weil sie nicht mehr planen und antizipieren können, verlieren sie auch den Bezug zur Zukunft. Das ist eine andere Form von Raum und Kausalität, die wir nicht nachvollziehen können.
    Müller-Hergel versteht Demenz vor allem als »schicksalshafte Abhängigkeit«, die in einem scharfen Gegensatz zu den autonomen und flexiblen Lebensentwürfen steht, deren Stellenwert in unserer Gesellschaft immer weiter steigt.
    – Wie kann man dem begegnen?
    – Wahrscheinlich am besten, indem man sich mit dieser Abhängigkeit auseinandersetzt. Das ist es auch, was mich die Auseinandersetzung mit der Demenz persönlich gelehrt hat. Wir sind viel stärker voneinander abhängig, als wir das glauben und zugeben wollen.
    – Ich bin nicht gern abhängig.
    – Nun, Menschen, für die Autonomie, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sehr wichtig sind, die Bindungsschwierigkeiten haben und sich eher schwer mit anderen Menschen in Bezug setzen können, haben eine recht gute Chance, ihre Demenz als dramatisch zu erleben.
    Ich muss gestehen, dass ich mich da zumindest teilweise angesprochen fühle.
    – Je stärker man in Verbindung mit anderen Menschen ist, relativiert das auch die eigenen Ansprüche und bekämpft die eigenen Neurosen. Ich glaube, dass es das leichter macht, einer Demenz zu begegnen.
    – Welchen Trost gibt es?
    – Bei der Demenz geht es um körperliche und seelische Nähe. Das muss ja nicht immer den ganzen Tag sein. Aber die Betroffenen brauchen dieses Gesehen-Werden, Gemeint-Sein, Gehalten-Werden. Und es bereichert die Menschen, die das geben.
    Wenn sich das neuronale Netz auflöst, gewinnt das soziale Netz an Bedeutung. Ein interessanter Gedanke.
    – Ja, das kann man so sagen. In Bezug auf die Demenz ist ein aktives soziales Leben sicher eine der wichtigsten Ressourcen.
    Schaut man in den Mikrozensus 2011 des Statistischen Bundesamtes, bekommt man allerdings den Eindruck, dass das »soziale Leben« in unserer Gesellschaft schon bald zu den aussterbenden Künsten gehören könnte. Jeder Fünfte in Deutschland lebt aktuell allein, und der Trend zum Einpersonenhaushalt ist eindeutig. In seiner Heimatstadt Dortmund, sagt Müller-Hergel, wohnen nur noch in dreizehn Prozent der Haushalte Familien, während dreißig Prozent aus zwei und stolze fünfzig Prozent der Haushalte aus nur einer Person bestehen. In anderen deutschen Städten sind die Zahlen ähnlich. Die Gesellschaft für Konsumforschung stellte in einer umfassenden Studie fest, dass sich soziale und familiäre Netze auf breiter Front auflösen: »Der Anteil der Familien mit Kindern sinkt, während der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt.«
    Müller-Hergel sieht das in einem größeren, letztlich ökonomischen Zusammenhang.
    – Die Gesellschaft setzt auf den einzelnen Konsumenten, der immer mehr konsumieren soll, und nicht auf menschliche Bindungen und Beziehungen.
    Dass die Demenz, insbesondere in der Alzheimer-Variante, bei uns im Allgemeinen eher in das Aufgabengebiet derMedizin und nicht der Pflege fällt, liegt seiner Meinung nach an der Sehnsucht nach Kontrolle, der

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