Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
ist auch dann noch vorhanden, wenn sich das deklarative Gedächtnis mit seinen bewussten Erinnerungen längst verabschiedet hat.
So geht für Fuchs die Persönlichkeit durch die Demenz nicht »komplett verloren«. Bezogen auf die Betroffenen, ist das eine durchaus beruhigende Perspektive, weil sie die Bedeutung dessen relativiert, was verloren gegangen ist, und andererseits den Wert dessen betont, was bei Menschen mit Demenz nach wie vor vorhanden ist. Wenn ich so meine Mutter betrachte, ist das Glas nicht mehr höchstens halb leer, sondern mindestens halb voll. Interessanterweise hatte auch Heinz Abels davon gesprochen, dass »unser Körper unser Gedächtnis sein kann«, als er mich auf den Habitus-Begriff des französischen Soziologen Pierre Bourdieu hinwies: »Unsere Geschichte und unsere sozialen Erfahrungen werden uns in den Leib eingeschrieben.« Auch Abels wollte ja zumindest nicht ausschließen, dass eine »gefühlte Identität« eine größere Rolle spielen kann als die bewusste und reflektierte Identität.
Zur Veranschaulichung zitiert Fuchs aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die Passage, in welcher der Protagonist voller Glück einen vertrauten Geschmack wiedererkennt, noch bevor er sich an die früheren Ereignisse und Bilder erinnern kann:
»In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, daß sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sichallein bestand und dessen Grund mir unerkannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte als einziges die Macht, mich zu den alten Tagen der verlorenen Zeit wieder hinfinden zu lassen, während gerade das den Bemühungen meines Gedächtnisses und Verstandes immer wieder mißlang.«
Ich stelle mir vor, dass meine Mutter in glücklichen Momenten so empfindet. Ein ungemein tröstender Gedanke. Fuchs zufolge steht dem nichts entgegen. Seinen Vortrag schließt er mit dem schönen Satz: »Was wir vergessen haben, ist zu dem geworden, was wir sind.«
Ich bin beeindruckt und froh, dass Fuchs im Anschluss an die Veranstaltung noch Zeit für ein Gespräch hat. In einer nahen Cafeteria finden wir Cappuccino und Tee und im großen Foyer des ICC einen freien Tisch.
– Was lässt Sie an das Leibgedächtnis glauben?
– Das ist kein Glaubensbegriff, sondern die einfache Erfahrung, dass ich Dinge kann, für die ich kein ausdrückliches Bewusstsein brauche. Das Leibgedächtnis beinhaltet alle erlernten Erfahrungen, die in mein selbstverständliches Können übergegangen sind, zum Beispiel Radfahren oder Tanzen. Es umfasst alles, von dem ich vergessen habe, wie ich es tue – ich tue es einfach. Das kann jeder an sich selbst feststellen.
Ich nicke beim »Radfahren«. Standardtänze sind bei mir ein anderes Thema.
– Für die Psychologen ist Identität das Wissen um die eigene Biografie. Sie erweitern das.
Fuchs nickt.
– Ich erweitere Identität um eine Grundschicht des Erlebens von Konstanz und Kontinuität, die unabhängig davon ist, dass ich eine ganz bestimmte Erinnerung aktiviere, um so auf meine Vergangenheit zurückzugreifen. Das erscheint mir auf einfache Weise selbstverständlich.
Ich brauche ein bisschen, um das als selbstverständlich einordnen zu können. Er hilft mir.
– Wenn ich hier mit Ihnen sitze, mache ich mir doch nicht fortwährend bewusst, ich bin Thomas Fuchs, gestern war ich auch Thomas Fuchs, ich weiß mein Geburtsdatum … Das ist gar nicht notwendig. Auf ganz selbstverständliche Weise bin ich meiner selbst als kontinuierlich lebendes Wesen bewusst, ohne dass ich mich meiner Identität fortwährend über einzelne Erinnerungen rückversichern und sie gezielt aufrufen muss. Das wäre etwas nur Gewusstes und damit Abstraktes, wenn ich es nicht mit einem elementaren Gefühl von Selbstvertrautheit und Selbstkontinuität, das ich in jedem Moment habe, verknüpfen könnte. Dann wäre Identität ja nichts anderes als ein bestimmter Komplex von Wissen, das ich ebenso gut über Sie, über einen anderen oder über mich haben kann.
Ich stimme zu. Fuchs wäre wohl auch nicht ich, wenn er ganz viel, vielleicht sogar alles oder noch mehr (der Mann ist Philosoph und Psychiater) über mich wüsste.
– Natürlich weiß ich mehr über mich als über Sie. Aber es kann ja nicht den Kern von Identität ausmachen, über wen ich mehr quantitatives Wissen habe. Sondern der Kern muss in der Weise
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