Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Hauses in der Nähe von New York und ist bereit, auf die Fragen der Berliner Kongressteilnehmer im großen Saal 3 zu antworten. Während es in Deutschland später Nachmittag ist, genießt Kandel offensichtlich die Morgensonne. Dass ihn über eine kleine digitale Kamera gerade ein paar hundert deutschsprachige Psychiater, Psychotherapeuten und artverwandt Beschäftigte anstarren, hat der Nobelpreisträger seiner Frau offensichtlich verschwiegen. Zur Erheiterung des Berliner Publikums schreitet sie recht unbefangen im Bademantel durchs Bild.
Dann erzählt Kandel sehr charmant, wie er als junger Psychiater beschloss, ganz konkret das Gehirn physisch zu erforschen, weil er hoffte, dort das »Ich«, das »Über-Ich« und das »Es« zu finden. In Berlin sorgt das für sichere Lacher.
Schließlich spricht er von den Erfolgen bei der medikamentösen Behandlung altersbedingter Gedächtnisschwächen bei Mäusen. Kandel, der im Zusammenhang mit seiner Forschung auch als Unternehmer erfolgreich ist, prophezeit, dass es »definitiv so eine Pille auch für den Menschen« geben werde. Wann diese Pille kommt, kann er aber nicht mit Sicherheit sagen. Wohl auch deswegen reagiert der Zweiundachtzigjährige auf die Erwähnung von »Alzheimer« spontan mit »Gott bewahre«.
Die für meine Fragen entscheidende Veranstaltung findet in einem kleinen, sterilen Nebenraum statt, in dem gut hundert leger gekleidete Fachfrauen und -männer einem Vortrag lauschen. Für sie geht es um den »Begriff der Person in der Psychiatrie und Psychotherapie«. Für mich geht es um meine Mutter. Vortragender ist der 1958 geborene Thomas Fuchs, Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie in Heidelberg. Ein schmaler, eher ruhiger Mann. Er spricht über die »Verleiblichung als Grundlage psychischer Identität«. Das klingt abstrakt, bietet aber, wie ich aus einigen Veröffentlichungen Fuchs’ weiß, Antworten auf einige meiner Fragen.
Fuchs referiert erst einmal über den amerikanischen Moralphilosophen Jeff McMahan, der Menschen mit schwerer Demenz nur noch als gespenstergleiche »Postpersonen« begreift, und über dessen einflussreichen Kollegen, den australischen Philosophen und Ethiker Peter Singer, der diesen Menschen ebenfalls den Personenstatusabspricht, weil ihnen »Rationalität und Selbstbewusstsein« fehlen. Wohingegen Hunden oder Katzen, so Singer, durchaus ein entsprechender Status zugesprochen werden könne. Die Basis dieser Theorien liegt, so Fuchs, in dem dualistischen Konzept, welches das Gehirn als das »Organ des Geistes« und den Körper lediglich als dessen passiven Träger begreift. Auf dieser Basis »muss die Demenz als allmähliches Erlöschen der Person erscheinen«. Fuchs bezieht sich dabei vor allem auf die Funktion des deklarativen Gedächtnisses.
Das deklarative Gedächtnis, Pohl sprach davon, umfasst mit dem autobiografischen Gedächtnis für unsere persönlichkeitsbezogenen Erinnerungen und dem semantischen Gedächtnis für eher allgemeines Faktenwissen jene Inhalte, auf die wir bewusst zurückgreifen können. Vor diesem Hintergrund werden Menschen mit Demenz, also ohne Zugriff auf ihr deklaratives Gedächtnis, eben als »verlöschende« Personen verstanden. Ich muss dabei an die Teletubbies denken.
Demgegenüber betont Fuchs nun die Bedeutung des, wie er es nennt, impliziten oder leiblichen Gedächtnisses, zu dem auch das prozedurale Gedächtnis gehört. Das, so erinnere ich mich, beinhaltet die Fähigkeiten, die wir nicht bewusst kontrollieren müssen. Wer zum Beispiel sein deklaratives Gedächtnis und somit vielleicht auch die Erinnerung an seinen eigenen Namen verloren hat, kann in der Regel trotzdem noch essen, laufen oder Ball spielen.
Das Leibgedächtnis beruht, so Fuchs, auf der »grundlegenden Erfahrung der Vertrautheit mit der Welt«. Es umfasst unsere tief verinnerlichten Erfahrungen. Dazu zitiert Fuchs einen schönen Satz des Philosophen William James, des Begründers der US -amerikanischen Psychologie: »Das Bewusstsein verlässt alle Prozesse, in denen es nicht länger erforderlich ist.« Für Fuchs ist die »Verleiblichung von Erfahrungen« die Grundlage unserer personalen Beständigkeit.
Er stellt sich damit gegen die vorherrschenden vernunftorientierten Konzepte, die davon ausgehen, dass wir im Sinne von Descartes’ »Ich denke, also bin ich« das sind, was wir bewusst erinnern können. Fuchs betont, dass in erster Linie das Leibgedächtnis unsere Identität bedingt. Es
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