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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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liegen, in der ich meiner selbst inne bin. Dieses Meiner-selbst-Innesein ist aber gar nicht gebunden an einzelne Erinnerungen, Konzepte oder Erzählungen. Sondern umgekehrt: Dieses Wissen über meine Lebensgeschichte, das muss ich anbinden an das elementare Innesein meiner selbst, damit ich überhaupt sagen kann: »Das habe ich damals erlebt.« Das kann ich nicht einfach nur »wissen«, sondern das muss ich als Erlebtes nachspüren und mit mir selbst in Verbindung bringen können. Und so kann in diesem ganz elementaren Sinne Identität nicht an ein bloß biografisches, deklaratives Wissen und Erinnern-Können gebunden sein.
    Er macht eine kleine Pause.
    – Wir denken, wenn wir nicht mehr wüssten: »Ja, ich bin so und so, ich hab damals das erlebt, ja diese Musik erkenne ich wieder, das war damals als ich … usw.«, dann wäre gar nichts mehr von uns übrig. Aber es ist eben immer noch ungeheuer viel da. Alles, was wir selbstverständlich zu tun wissen, was wir gewohnt sind oder lieben, das sind immer noch wir.
    Aber was ist mit dem autobiografischen Gedächtnis, das, so der Sozialpsychologe Harald Welzer, »den Menschen zum Menschen macht«? Was bedeutet es, wenn Eric Kandel sagt, »Wir sind, wer wir sind, aufgrund dessen, was wir lernen und woran wir uns erinnern können«? Fuchs schüttelt den Kopf.
    – Das finde ich problematisch. Da würde ich, ohne die Bedeutung des autobiografischen Gedächtnisses mindern zu wollen, entgegnen, dass auch die leiblichen, zwischenleiblichen Beziehungen und Erfahrungen des Menschen von Anfang an sehr spezifischer Art sind. Und auch bei der Aussage von Kandel wäre ich vorsichtig. Wir sind, was wir sind, nicht nur weil wir uns an etwas erinnern können. Sondern: Die bewusste Erinnerung ist ein Teil dessen, was wir sind. Ein wichtiger, aber nicht der ausschließliche Teil.
    Während Fuchs kurz innehält, um von seinem Cappuccino zu trinken, durchströmt mich ein warmes Gefühl von Dankbarkeit. Das Bild meiner Mutter, so kommt es mir vor, wird wieder rund, ist nicht länger nur auf seine Mängel reduziert.
    – Wenn man sich die frühe Kindheit näher ansieht, ist das doch viel mehr als ein bloßes Aufwachsen, nämlich von Anfang an eine spezielle Bezogenheit zwischen Mutter und Kind, ein zwischenleiblicher Umgang mit anderen Menschen, der als solcher schon ins Leibgedächtnis eingeht. Die ersten Jahre unseres Lebens als Baby – das istja später alles mit präsent, es prägt unseren Umgang mit anderen, auch wenn wir uns an nichts mehr aus dieser Zeit erinnern können.
    Bei »Babys« denke ich erst an meine jüngste Tochter und dann an meine Mutter und mich. Pohl hatte schon von der grundsätzlichen Bedeutung dieser ersten Beziehungserfahrungen gesprochen. Fuchs zufolge ist mein Leibgedächtnis entscheidend durch meine Mutter und damit auch durch ihr Leibgedächtnis geprägt.
    – Es ist ein ungeheurer Reichtum von Beziehung und Erfahrung, was in den ersten eineinhalb Lebensjahren zwischen Mutter und Säugling abläuft, noch bevor das autobiografische Gedächtnis einsetzt. Sollen wir etwa sagen, das spielt keine Rolle, nur weil wir es nicht bewusst greifen können? Nein, es schwingt mit in den Erfahrungen, die wir mit anderen machen, es schwingt auch mit in dem Urvertrauen in die Welt, das wir hoffentlich haben.
    Mir gehen Bilder aus meiner frühen Kindheit durch den Kopf, das heißt wohl vor allem – so viel weiß ich ja mittlerweile – Fotos aus dieser Zeit. Ich denke an das Urvertrauen, das ich zu haben glaube. Und ich denke an meine Töchter, meinen Wunsch und meine Bemühungen darum, dass sie sich gut fühlen in dieser Welt. Fuchs ist schon weiter.
    – Und wenn nun jemand behauptet, diese frühen Erfahrungen spielen für mich als Person keine Rolle, dann empfinde ich das als eine Verzerrung. Denn wenn man sich das bewusst macht, merkt man, wie reich an Erfahrungen wir sind, selbst wenn wir sie nicht im Einzelnen hervorrufen können. Darin liegt auch etwas sehr Tröstliches.
    Wieder denke ich an meine Mutter, daran, wie schmerzhaft es ist, dass sie sich kaum noch an ihre und an unsere Geschichte erinnern kann. Und dann denke ich daran, wie es ist, ihre vertraute Hand zu halten. Ich erzähle Fuchs davon.Er versteht, was ich meine.
    – Ich glaube, es geht um eine gewisse Balance. Dass dieses »Sich-nicht-mehr-Erkennen« auch ungeheuer schmerzlich ist, will ich nicht bestreiten. Das reflektierte Bewusstsein macht ja auch unsere Beziehungen zueinander als entwickelte

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