Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
ich es gelesen, viele Kalorien.
Ein älterer Herr mit Jackett und korrekt gebundenerKrawatte steht gesättigt auf und lässt sich von der Pflegerin, nicht zum ersten Mal, den Weg zu seinem Zimmer erklären. »Nummer 318 auf der linken Seite, immer den Gang lang, an der Tür steht ihr Name.« Dankend geht er in die angesagte Richtung und kommt auch nicht wieder. Bald wird er hundert Jahre alt.
Einer anderen Frau fehlen immer mehr Worte der deutschen Sprache. Sie ist in einem anderen Land aufgewachsen, hat Deutsch erst später gelernt und verliert es mit ihrer Demenz nun schneller. Ein Phänomen, das mittlerweile eine gesellschaftliche Dimension erreicht, weil es so viele alternde Migranten betrifft, für die sehr oft Pflegekräfte mit entsprechenden Sprachkenntnissen fehlen.
Meine Mutter versucht derweil, mit einem Löffel ein Tischtuch zu zerschneiden. Wir gehen in ihr Zimmer. Ich führe sie zu ihrem Sessel und massiere ihre dauerverspannte Oberschenkelmuskulatur. Sie hat die Augen geschlossen und schnurrt und summt und schlägt dann vor, gemeinsam zu singen. Da ist sie mir mal wieder nicht nur bei der Textsicherheit um Längen voraus.
Ein sehr schöner Tagesausklang. Meine Mutter genießt die Massage, sagt von sich aus, wie schön das ist und was »das doch für ein lieber Kerl« sei. Als ich, nicht ganz frei von Eitelkeit, frage, wen genau sie denn meine, hat sie es allerdings schon wieder vergessen.
»Kein Schirm für alle«
Der Philosoph Michael Quante
Auf einer anderen Veranstaltung des Ethikrates, die nichts mit dem Thema Demenz zu tun hat, lerne ich Michael Quante kennen. Quante ist Professor der Philosophie in Münster, fünfzig Jahre alt und ein eher bodenständiger Typ. Nach seinen Vorstellungen kommt Menschen mit schwerer Demenz kein umfassender Personen-Status zu, weil ihnen vor allem im fortgeschrittenen Stadium »ein ausreichendes Maß an Rationalität, Zeitbewusstsein und die Fähigkeit, an sozialer Interaktion teilzunehmen«, fehlen. In Bezug auf die Menschenwürde schreibt Quante in seinem 2010 erschienenen Buch Menschenwürde und personale Autonomie : »Es ist die Fähigkeit zu einem autonomen, in eigener ethischer Orientierung geführten Leben als menschliche Personen, die wir durch den Begriff der Menschenwürde anzeigen und aus der sich das Verbot einer vollständigen Instrumentalisierung und die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde ergibt.« Demnach hätte meine Mutter keinen Anspruch auf Menschenwürde. Michael Quante ist da offensichtlich anderer Meinung als Thomas Fuchs.
Da sich der Abend beim Ethikrat etwas in die Länge zieht, verschieben wir ein für das Ende der Veranstaltung geplantes Gespräch auf ein Telefonat ein paar Tage später. Am Anfang erwähnt Quante, dass es auch in seiner Familie Menschen mit Demenz gab. Dann kommen wir zur Philosophie. Für Quante kann »die biologische Artzugehörigkeit als kleinster gemeinsamer Nenner nicht die alleinige Grundlage für einen moralischen Status sein«. Damit er nicht inhaltsleer bleibt, braucht man für die Begründung eines solchen Wertes Kriterien, auch wenn damit »bestimmte Menschen und Menschen in bestimmten Zuständen« ausgeschlossen werden. Ihnen könnte, so Quante, keine Menschenwürde, »sondern einfach Würde zukommen«, mit »moralischen Ansprüchen etwas anderer Art«.
– Was immer ein schwerwiegendes Problem bleibt, ist das Recht auf Leben.
Er bringt es auf den Punkt, um den es letztlich geht.
– Menschen ohne Personenstatus unter bestimmten Bedingungen wie etwa der Vermeidung von schwerem Leid zu töten, wie es Peter Singer zur Diskussion stellt, ist ethisch vertretbar. Sie ohne schwerwiegende Gründe oder gegen ihren eigenen Willen umzubringen, ist dagegen eindeutig eine Menschenrechtsverletzung. Auch mit menschlichen Nicht-Personen darf man bestimmte Dinge nicht tun.
Bei den »menschlichen Nicht-Personen« muss ich kurz schlucken und hake nach.
– Aber mit so einer Würde zweiter Klasse öffnet man gewissen Entwicklungen oder zumindest schwierigen Diskussionen Tür und Tor. Das kann zu Definitionen führen, die im extremsten Fall dann doch das Lebensrecht betreffen oder mit denen gravierende Abstriche bei der Qualität der Pflege begründet werden.
– Da würde ich widersprechen.
– Ja, gerne.
– Nicht an der Stelle, dass wir schwierigen Diskussionen Tür und Tor öffnen. Das tun wir. Aber wir leben doch in einer Welt der Knappheit, oder?
– Ja.
– Das heißt, Sie kommen jetzt ständig
Weitere Kostenlose Bücher