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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joern Klare
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Da war man auch nicht verwöhnt oder kritisch. Das fand man einfach gut.«

Alltage
    Meine Mutter sitzt in einem bequemen Sessel auf dem Gang des Altenheims. Ihre Beine liegen in eine weiche Decke gewickelt auf einem Stuhl. Sie ist eingenickt und reagiert nicht auf mein »Hallo«, nicht auf meine Berührungen, nicht auf mein Streicheln. Ihre Hände sind warm. Sie wirkt entspannt. Wo immer sie in ihren Gedanken, Träumen, Halluzinationen oder was auch immer ist …, vielleicht sollte ich sie dort lassen. Habe ich überhaupt ein Recht, sie aus ihrer anderen Welt herauszuholen, selbst wenn ich um 4.20 Uhr in Berlin aufgestanden bin, um einen Zug um 5.09 Uhr zu nehmen, damit ich den Vormittag mit meiner Mutter verbringen kann? Vier Stunden im Zug, schwankend zwischen Vorfreude und Angst vor der Begegnung, vor der Realisierung neuer Verluste, der Hilflosigkeit, der Distanz, die immer wieder und auch jetzt da ist.
    Irgendwann öffnet sie die Augen. Ich lächle sie an.
    – Ich bin es, Jörn!
    Ihr Blick ist fragend, sie erkennt mich nicht.
    – Dein Sohn!
    Sie schaut überrascht, verwundert, amüsiert. Da erlaubt sich wohl einer einen kleinen Scherz. Dieser Mann mit den angegrauten Schläfen ist doch ein Erwachsener und nicht ihr kleiner Sohn. Sie lächelt und schließt die Augen wieder.
    Auch solche Tage gibt es. Eine Verständigung scheint kaum möglich. Auf keine meiner Fragen gibt es eine annähernd sinnvolle Antwort. Sie ist zum Glück gut gelaunt. Doch sie halluziniert, reibt ununterbrochen den Zipfel ihrer Jacke an der Hose. Wer sie nicht kennt, würde wohl denken, sie sei verrückt. Ich nehme sie immer wieder in den Arm, streichle ihre Hand. Sie lässt es geschehen. Ich bilde mir ein, sie genießt es. Mehr ist nicht für heute undnicht für morgen, nicht für die nächsten drei Wochen, bis ich wieder hierher komme. Vielleicht ist dann mehr Begegnung möglich. Oder verstehe ich sie nur nicht? Sicher verstehe ich sie nicht.
    Ich kann nur respektieren, was sie macht und was sie nicht macht. Das ist ihr Recht. Sie kann und soll tun, was sie will, was ihr Zufriedenheit bereitet. Vielleicht sogar Glück. Anspruch auf Würde bedeutet auch Recht auf Selbstbestimmung, vielleicht sogar selbstbestimmtes Glück. Meine Erwartungen und Ansprüche bringen uns hier und jetzt auf jeden Fall nicht weiter.
    Ein paar Tage später bekomme ich eine Mail von Markus Kübler. Im Rahmen eines standardisierten Beobachtungsverfahrens für Menschen mit Demenz, das auf Tom Kitwoods Ansatz der personenzentrierten Pflege basiert, hat sich Kübler einen Vormittag lang mit meiner Mutter und ihrer Umgebung beschäftigt. Dieses »Dementia Care Mapping« soll die Pflegequalität messen, wenn konkrete Befragungen der Betroffenen nicht mehr möglich sind. Es basiert auf detaillierten Beobachtungen, die über mehrere Stunden protokolliert und anschließend ausgewertet werden.
    So befindet sich im Anhang von Küblers Mail das Protokoll eines normalen Vormittags im Wohnbereich meiner Mutter. Auch wenn mir nicht ganz klar ist, wie objektiv ein Verfahren sein kann, das auf mitfühlender Beobachtung beruht, freut es mich zu lesen, was Kübler festgehalten hat. Bevor er zusammenfasst, dass es meiner Mutter an besagtem Morgen »relativ gut geht«, beschreibt er, wie sie eine Massage genießt, »die ihr sichtlich Freude bereitet«, dass ihr mit einer Pflegerin eine »verbale Kommunikation gelingt« und wie meine Mutter »zwischendurch das Geschehen an anderen Tischen beobachtet« und einen »entspannten und freundlichen Gesichtsausdruck hat«.
    Drei Wochen später erkennt sie mich auf Anhieb.
    – Hallo Jörn, wie schön, dass du da bist.
    Wir umarmen uns lange. Wie zerbrechlich sie geworden ist.
    Dann probieren wir neue Schuhe an. Besser gesagt, sie probiert sie an. Ich helfe ihr nur, sie anzuziehen. Es sind sportliche Freizeitschuhe mit einem praktischen Klettverschluss. Ihre Begeisterung ist mäßig, und ich rede die Schuhe schön, zumindest schöner, als sie sind. Das ist das dritte Paar, das ich ihr ins Heim bringe. Gestern erst habe sie sich selbst ein Paar gekauft, bemerkt sie. Eine Pflegerin kommt herein und sagt »Schöne Schuhe«. Ich bin dankbar, und meine Mutter ist bereit, die Neuerwerbung zu behalten.
    Die Pflegerin ist frisch ausgebildet, jung und sie hat etwas sehr schönes Strahlendes. Bei einer praktischen Zwischenprüfung hat sie schon einmal ihre Fähigkeiten bei der Betreuung meiner Mutter unter Beweis gestellt. Ich gratuliere ihr zur

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