Als Mrs Simpson den König stahl
müssen wir schließlich alle, nicht wahr, Sir John?«
Evangeline musste Luft holen. Dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Weinglas und gestattete sich, für einen Moment ihr Ein-Mann-Publikum zu begutachten. Sir John war ein stattlicher Mann, schätzungsweise im selben Alter wie sie, vielleicht ein Jahr älter, aber was für eine Position hatte er in derselben Zeit erreicht!
Evangeline amüsierte sich. Seit ihrer Ankunft in England war an dem, was sie zu sagen hatte, niemand so interessiert gewesen, geschweige denn jemand, der ein solcher Jemand war. Julian zum Beispiel schien ihr nie zuzuhören. In seinem Alter besaß Julian natürlich noch nicht die weltgewandte Reife eines Sir John. Allerdings hatte sein ermutigendes Augenzwinkern bei Wallis' Abendgesellschaft – wie lange war das jetzt schon her! – sein Interesse an ihr gezeigt, und es war nur ihr eigenes tölpelhaftes Benehmen gewesen, das ihn davon abgehalten hatte, die
sen Gefühlen nachzugeben. Sie war sich ziemlich sicher, dass sich Julian an seine alberne Freundin Charlotte mit ihrem unnötig anzüglichen Auftreten nicht gebunden fühlte. Nein. Dass Julian so fahrig wirkte und sie seine Aufmerksamkeit, sosehr sie sich auch bemühte, nicht mehr auf sich zu lenken vermochte, daran konnte Evangeline niemandem die Schuld geben außer sich selbst. Wenn sie es sich recht überlegte, wollte er immer mit dem Auto irgendwohin fahren, sei es, um Joan im Krankenhaus zu besuchen, sei es, um sich zum Bahnhof bringen zu lassen. Nicht zum ersten Mal dachte sie, wie eintönig es sein musste, sich so oft allein im Wagen umherkutschieren zu lassen und außer dieser töricht vernarrten May keine Gesellschaft zu haben.
An ihrem Sitzplatz am Kopf des Tisches in Cuckmere jedoch gelang es Evangeline, Julian aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie vergaß auch, wie frustriert sie früher am Abend gewesen war, als ihr das flachbusige, androgyne Aussehen, das derzeit so in Mode war, trotz aller Anstrengungen mit einer elastischen Binde nicht gelingen wollte. Denn Sir John richtete seinen Blick nicht etwa auf ihren beträchtlichen Busen, sondern auf ihren Mund und auf die Wörter, die daraus hervorquollen. Er war offensichtlich sehr viel mehr als einer jener Männer, die jeder Frau gleich in den Hintern kniffen.
»Du liebes bisschen«, sagte er, »Sie haben das Zeug zu einer tüchtigen Detektivin! Es sollte mich nicht wundern, wenn Sie ein Fan von Agatha Christie wären, oder sollte ich sagen, von Dashiell Hammett auf Ihrer Seite des Ozeans? Ein herrliches Buch, Der dünne Mann , finden Sie nicht?«
Evangeline hätte das Gespräch über Kriminalromane gerne fortgesetzt, doch Sir John schien mehr daran interessiert, zu ihrem Schulleben in Baltimore zurückzukehren.
»Sie müssen dort sehr beliebt gewesen sein«, bemerkte er zuversichtlich, während er ihr die silberne Pfeffermühle anbot, die zwischen ihnen stand.
Evangeline errötete und bemühte sich, besonders lieblich zu
lächeln. Vielleicht trug ja der neue Chignon im französischen Stil, den Wallis' Coiffeur Antoine geschickt aus den Haaren ihrer helleren Perücke gebunden hatte, zu ihrer vorteilhaften Wirkung bei.
»Von Sir Philip habe ich gehört, dass Sie seit Ihren Schultagen mit Mrs Simpson bekannt sind«, sagte Sir John, »obwohl Sie nicht so aussehen, als hätten Sie diese Tage schon vor langer Zeit hinter sich gelassen!«
Evangeline bemerkte, dass sie mitteilsamer war, als sie beabsichtigt hatte. Wenig verwunderlich, hatte sie doch bereits das dritte – oder war es etwa das vierte? – Glas Chablis geleert. Sie blickte über den Tisch hinweg zu Miss Dobbs, die auf ihrem Sitzplatz zwischen Rupert und dem Bibliothekar eine bewundernswerte Vorführung bot. Rupert gab ganz den charmanten Eton-Absolventen, dies trotz der grünen Krawatte, die Miss Dobbs trug. Evangeline wandte sich wieder ihrem eigenen Tischnachbarn zu.
»Wir alle fragen uns, was dort unten im Wald von Fort Belvedere eigentlich vor sich geht«, sagte Sir John. »Aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es liegt mir fern, herumschnüffeln zu wollen. Vielmehr wollte ich Sie fragen, ob Ihnen schon einmal jemand gesagt hat, was für eine höchst außergewöhnliche Stimme Sie haben. Verzeihen Sie mein professionelles Interesse, aber ich kann nicht umhin, auf Stimmen zu achten. Und Ihre ist aus reinstem Samt.« Während er sprach, arrangierte Sir John sein unbenutztes Fischbesteck parallel zu Dessertlöffel und Obstmesser. Offensichtlich war er
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