Als Mrs Simpson den König stahl
müssen. Trotz der vielen Kontakte, die sie den guten Beziehungen ihrer englischen Patentante Joan zu verdanken hatte, erklärte sich in Evangelines Fall leider kein heiratswilliger Kandidat bereit, sie zu einer Tasse Tee einzuladen, geschweige denn, sie mit romantischen Candle-Light-Dinnern zu überhäufen oder ihr einen Sitz als Hausherrin einer anständigen georgianischen Pfarrei anzubieten. Lange vor Evangelines fünfundzwanzigstem Geburtstag hatte Mrs Nettlefold bereits alle Hoffnung aufgegeben, dass ihre Tochter jemals heiraten würde; sie war zu dem Schluss gelangt, dass die Wurzel des Problems nicht etwa ein Mangel an geeigneten Kandidaten war, sondern der Leibesumfang ihrer Tochter. Evangeline war einfach zu dick.
Mit Mitte zwanzig hatte Evangeline den erfolgreichen Liebesroman Der grüne Hut von Michael Arlen gelesen. Ein Abschnitt über Unbehagen, der mit Hüten gar nichts zu tun hatte, schlug eine Saite in ihr an. Auf der Suche nach etwas, womit sie die Unzufriedenheit mit ihrem Leben überwinden und die innere Leere ausfüllen könnte, stürzt sich die Protagonistin Iris Storm auf Zigaretten, Kokain, Sex und sogar Schokolade.
»Ja«, konstatierte Evangeline, die sich in Iris wiederzuerkennen glaubte. So verbrachte auch sie ihre Zeit: mit der Suche nach dem schwer fassbaren Etwas, mit dem sie das Gefühl der Leere bannen konnte. Bei zahllosen Gelegenheiten hatte sie geglaubt, die Antwort sei Schokolade, doch die Erleichterung, die der Zucker ihr verschaffte, hielt nicht lange vor, und die Leere kehrte unweigerlich zurück. Jeden Tag ihres Lebens kämpfte Evangeline Nettlefold darum, die Bitterkeit, die sie zu zerfressen drohte, zu unterdrücken. Eifersucht und Missgunst blieben ihre ständigen Begleiter. Sie war eifersüchtig auf das Aussehen der anderen, auf deren Beliebtheit, deren Selbstsicherheit, auf die Loyalität, die ihnen entgegengebracht wurde, vor allem aber auf die
scheinbare Leichtigkeit, mit der ihnen die Herzen zuflogen. Ihr ganzes Leben lang hatte Evangeline sich unbeachtet, unbedeutend und ungeliebt gefühlt. Und all ihr stummer Groll richtete sich auf die Frau, die sie in diese Lage gebracht hatte.
Ihr Bruder Frank hatte sich schon lange darüber empört, wie seine Mutter Evangeline schikanierte. Doch wie alle anderen auch war er zu sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt, um etwas dagegen zu tun. Wohl aber war er Evangeline dankbar, weil sie eingewilligt hatte, die Pflege der Mutter fast im Alleingang zu übernehmen. Es verging kaum eine Woche, ohne dass diese irgendeine neue Krankheit entdeckte, an der sie litt. Sie wurde von Schmerzen in jedem denkbaren Körperteil geplagt, und hinter ihrem Rücken machten Frank und Evangeline Scherze über ihr ermüdendes »Organkonzert«. Selbst berühmte Fachärzte hatten keine Diagnose stellen können. Sie fanden einfach keine Erklärung für die periodischen Ohnmachtsanfälle, die Atembeklemmungen und die zitternden Gliedmaßen, die Mrs Nettlefold abwechselnd ans Wohnzimmersofa oder, noch schlimmer, mehrere Tage ans Bett fesselten, wo sich die anstrengende Patientin von ihrer Tochter bedienen ließ. Evangeline fühlte sich verfolgt, unterdrückt und eingesperrt, und nicht selten betete sie, ihre Mutter möge von ihrem jüngsten Gebrechen nicht genesen.
Am Ende sollte ihr Wunsch sich erfüllen – es war das erste Mal in Evangelines Leben, dass einer ihrer Wünsche in Erfüllung ging. Als Ursache für Mrs Nettlefolds lang erwarteten Tod gaben die Ärzte übereinstimmend ein geschwächtes Herz an. Da Evangeline nun kein Dach mehr über dem Kopf hatte, besann sich ihr Bruder Frank der besonderen geschwisterlichen Bindung, und er und seine Frau boten ihr Kost und Logis an. Dank ihrer heiteren und zumeist phlegmatischen Gegenwart mutete ihre Abhängigkeit nie wie eine lästige Pflicht an.
Wie üblich hatte die Post auch an jenem Morgen vor sechs Wochen auf dem Garderobentisch gelegen. Zunächst hatte sich Evangeline der neuen Weihnachtsausgabe von Good Housekeeping zugewandt, jener Publikation, die ihr einziges bescheidenes Ventil für Zügellosigkeit war. Die meisten anderen Umschläge enthielten Weihnachtskarten und Versandkataloge, die mit Abbildungen verführerischer Modeglanzlichter der Saison versehen waren. Das Beste hob sie bis zuletzt auf. Der Anblick der Briefmarke mit dem gekrönten Haupt im Profil bereitete ihr stets ein erhebendes Vergnügen, denn sie wusste, wer die Marke aufs Kuvert geklebt hatte.
Cuckmere Park bei
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