Als Mrs Simpson den König stahl
noch ein dünnes Laken und eine löchrige Decke hatte. Die Nähte der Daunendecke waren altersschwach, und so waren überall zusammengerollte Flaumfedern auf den Teppich geschwebt. Von ihrer erhöhten Position im Bett konnte May sehen, dass ein paar davon sich auf Tante Gladys' dunklen Samthut geheftet hatten, der auf der Kommode lag.
Das Zimmer schien schon eine Weile nicht benutzt worden zu sein, denn aus dem dunklen Teppich stieg ein muffiger Geruch auf. Manchmal wünschte sich May, ihre Nase wäre nicht so empfindlich. Die nelkengespickten Orangen in Sir Philips Bibliothek hatten köstlich geduftet. Und obwohl der Zigarrenrauch in Sir Philips Arbeitszimmer ihr Kopfschmerzen verur
sacht hatte, fand sie den Geruch von eingeschlossener Feuchtigkeit viel unangenehmer. Das bodenlange, nach Seife duftende Baumwollnachthemd, das Mrs Cage ihr am Vorabend geliehen hatte, war mit winzigen rosafarbenen Rosen bedeckt und musste, so wie es sich an ihre Hüften schmiegte, beim Waschen geschrumpft sein. May sehnte sich nach einer Tasse Tee, wagte es jedoch nicht, nach unten zu gehen, solange es nicht hell genug war, um ihre Tageskleider sehenden Auges anzuziehen. Mrs Cage hatte ihr versprochen, dass ihre neue Uniform – Hose und Jackett – in ein, zwei Tagen fertig wäre, aber bis dahin musste sie sich mit dem Kostüm begnügen, das sie für das Vorstellungsgespräch ausgewählt hatte. Und mit Strümpfen, die ihr Mrs Cage geborgt hatte. Widerstrebend hatte sie auch das Angebot abgelegter Unterkleider der Haushälterin angenommen, doch das Elastikband war ausgeleiert und viel zu locker, um in Mays schlanker Taille zu sitzen. May hoffte, dass ihre eigene Unterwäsche inzwischen trocken war; am Vorabend hatte sie sie nach gründlichem Spülen über das Kamingitter gehängt.
Tausend Dinge gingen ihr im Kopf herum, und sobald es hell wäre und bevor die jüngsten Ereignisse die früheren aus dem Gedächtnis verdrängten, wollte sie sie alle in ihrem blauen Tagebuch festhalten. Sie strich sich das lange dunkle Haar aus der Stirn. Ob Bertha sie wohl vermisste? Ob ihr wohl jemals warm würde? Kümmerte sich jemand um den Wagen? Ein Gedanke jagte den nächsten, und schließlich konnte sie nicht länger verhindern, dass die wichtigeren Fragen sich in ihrem Kopf geradezu überschlugen. War ihre Mutter einsam? Hatte sie einen schrecklichen Fehler begangen, indem sie sie verlassen hatte? Einen Augenblick lang wurde sie von Angst überwältigt. Inzwischen schmerzlich wach, setzte sie sich kerzengerade auf und fragte sich, ob sie in der Aufregung ihres neuen Lebens vergessen hatte, wie es sich anfühlte, eine Tochter zu sein.
Sie legte sich wieder hin und prüfte, ob der Schnappverschluss ihres Armbands aus silbernen Vergissmeinnicht, das ihr Hand
gelenk umschloss, fest eingerastet war. Aus dem Loch im Futterstoff entwich eine weitere Wolke gekringelter Daunen und schwebte in die Luft. Sie machte die Augen zu und versuchte wieder einzuschlafen, ertappte sich aber dabei, über Julian nachzudenken. Über die Schnelligkeit und die ungezwungene Vertrautheit, mit der er sie wegen ihres Hutes geneckt hatte, war sie verdutzt gewesen. Hatte er etwa mit ihr geflirtet? Sie fragte sich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen. Wie sich ein solcher Kuss wohl anfühlen mochte? Würde er die Brille absetzen, oder würde sie sich unter sie ducken müssen, um an seinen Mund zu kommen? Bei dem Gedanken kräuselten sich ihre Lippen, und sie verspürte eine erregende Neugier. Diese Erfahrung, ein Kuss von Mund zu Mund, von dem sie so oft in Büchern gelesen, den sie so oft in Filmen gesehen und bei dem sie so oft zugeschaut hatte, wenn die turtelnden Zuckerrohrarbeiterinnen nicht ahnten, dass sie beobachtet wurden – für May blieb er ein frustrierendes Geheimnis.
Vor einem Jahr hatte ihre Mutter mit ihr über die Natur des Glücks gesprochen. Eines Abends hatte sie ihr vorgeschlagen, sich gemeinsam auf die Terrasse zu setzen und ein »Gespräch über das Erwachsenwerden« zu führen. Die Atmosphäre der Unterredung hatte etwas Endgültiges gehabt, als ob Edith eine letzte Chance nutzen wollte, um ihrer Tochter alles mitzuteilen, was sie für klug und kostbar hielt.
»Mein Liebling«, begann Edith und nahm die zarten Hände ihrer Tochter in ihre, »als Erstes möchte ich dir sagen, dass es auf dieser Erde keinen Mann gibt, der alle Erwartungen einer Ehefrau erfüllen kann. Sinn für Humor und eine Leidenschaft für Bücher sind ein großes Plus, würde ich
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