Als Mrs Simpson den König stahl
Jedenfalls mag ich sie, denn nicht jeder sagt die Wahrheit. Und manchmal flucht sie auch aus Versehen.«
»Ja, bitte. Mrs Jenkins würde ich natürlich gerne kennenlernen«, sagte May. »Vielleicht könnten wir zusammen mit dem Fahrrad hinfahren und sie besuchen?«
Wieder wirkte Florence beunruhigt.
»Hast du kein Fahrrad?«, fragte May.
»Nein, ich habe keins, weil, na ja, ich kann nicht Rad fahren. Mum sagt, sie würde es mir gerne beibringen, aber im Moment hat sie keine Zeit. Aber Sie sagen's keinem in der Schule, ja? Ich muss es geheim halten, sonst ziehen meine Freundinnen mich auf.«
»Wenn du magst, bringe ich's dir bei. Vielleicht hat Mr Hooch ja zwei alte Drahtesel in seinem Schuppen, dann können wir zusammen üben.«
Florences Augen leuchteten. Sie sprang aufs Bett, küsste May auf die Wange und war, noch ehe May Zeit hatte, etwas zu sagen, schon wieder zur Tür hinaus.
7
May hatte gerade zwei Wochen bei den Blunts gearbeitet, als eine Nachricht Sir Philip dazu veranlasste, den Wochengästen abzusagen und May ein paar Tage freizugeben. Der König war erkrankt. Es kam ihr sonderbar vor, dass nur zwei Wochen nach Antritt ihrer neuen Stelle und kaum einen Monat nach ihrer Ankunft in einem neuen Land eine Entscheidung über ihre Arbeitsstunden von der Gesundheit des Königs abhängig gemacht wurde. Als sie aus Polegate abreiste und abermals sah, wie die ländlichen Bahnhöfe an ihrem Fenster vorüberhuschten, dachte sie einen Augenblick darüber nach, was für eine gute Verbindung der Zug doch zwischen ihrem Leben hier und dem in London war. Und dann fiel ihr wieder ein, wie sehr sie sich darauf freute, Sarahs Angebot eines Haarschnitts aufzugreifen.
Überall in der Oak Street waren die üblichen Vorbereitungen für das Wochenende in vollem Gange. Frauen in geblümten Schürzen, neben sich einen Eimer mit Seifenwasser, kauerten auf den Knien und schrubbten einen Halbmond Sauberkeit in den Gehweg vor ihren Haustüren. Trotz der Krankheit des Königs würde in der Oak Street 52 nichts die wöchentliche Heiligung des Schabbats stören, wenn die Familie vierundzwanzig Stunden, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, beisammensaß, um Gebete zu sprechen, gut zu essen und die kleinen Sorgen des Lebens von sich fernzuhalten.
Vor dem Schabbatfest mischten sich May und Sam unter die Menschenmenge, die vor Sonnenuntergang ihren wöchentlichen Spaziergang in der Whitechapel Street unternahm. Kinder waren auf den Straßen, schwangen an Laternenpfählen und aßen aus Zeitungstüten heiße Maronen, die man an jeder Straßenecke aus behelfsmäßigen Kohlenpfannen kaufen konnte. Metzger stellten in ihren Schaufenstern koscheres Fleisch aus, und niemand schien sich daran zu stoßen, dass über das Hüh
nerklein und die Holzbretter mit Gekröse Fliegen krabbelten. Die Atmosphäre in der Petticoat Lane glich einem Rummelplatz. Schlangenmenschen befreiten sich unter vielen Verrenkungen aus Zwangsjacken, Porzellanverkäufer warfen ganze Tafelservice in die Luft und fingen die Einzelteile auf, bevor sie auf dem Boden zerschellten. In Buden, vollbepackt mit Bageln, Bücklingen, Salzheringen und gepökeltem Rindfleisch, standen Frauen mit verschränkten Armen und boten ihre Waren feil. Ein Inder mit einem türkisfarbenen Turban auf dem Kopf und einer Schubkarre voller Erdmandeln und Süßholzwurzeln lockte eine zahlreiche Kundschaft an. Daneben beschlug ein Hufschmied die Hufe eines Pferdes mit glühend heißen Eisen. Ein Junge, der auf einem Bein balancierte, stützte sich auf eine ramponierte Krücke, und jedes Mal, wenn eine gut gekleidete Frau in die kleine Mütze, die zu seinen Füßen lag, eine Münze warf, murmelte er: »Danke, Ma'am.« Nach fünf Minuten sah May, wie das Kind hinter sich griff, wie um an einem Knoten zu nesteln. Als sein zweites Bein den Boden berührte, hob der Junge vorsichtig, um die Einnahmen des Vormittags nicht zu verschütten, seine Mütze auf, rannte davon und verschwand in der Menge.
Rachel bereitete das Schabbatmahl jeden Freitagnachmittag zu, und May wusste von ihrer Mutter, dass es für Gojim wie sie und Sam eine Ehre war, daran teilnehmen zu dürfen. Die Greenfelds folgten nicht den streng orthodoxen Regeln mancher jüdischer Familien, die jede moderne Beeinträchtigung untersagten; nicht einmal eine Glühbirne durfte eingeschaltet werden, ganz zu schweigen von einem Radio. Dennoch blieb der Schabbat auch für die Greenfelds ein geheiligter Tag.
May verfolgte die umständlichen
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