Als Mrs Simpson den König stahl
resultierende Ausbeute an Filmmaterial binnen dreier Tage auf den Kinoleinwänden erscheinen würde.
Der Abstand zwischen Schiff und Kai vergrößerte sich fast unmerklich. Aus den riesigen Schornsteinen begann Rauch aufzusteigen. Mit Wimpeln geschmückte Schiffe unterschiedlicher Größe ließen ihr Signalhorn ertönen, um der Queen Mary alles Gute für die Reise zu wünschen. Plötzlich wurde Mays Aufmerksamkeit von der bunten Szenerie abgelenkt, als aus der Ehrenloge ein leiser Aufschrei zu hören war. Als sie sich so weit wie möglich vorbeugte, konnte sie eben noch sehen, wie Lady Joan seitlich in Miss Nettlefolds Arme glitt. May kletterte flink über die Trennwand, um zu der reglosen Gestalt Lady Joans zu gelangen.
»Ich hatte eine schreckliche Vorahnung, dass so etwas passieren würde«, schnaufte Miss Nettlefold, deren Kopf vor lauter Anstrengung, den schlaffen Körper ihrer Patentante auf einen Stuhl zu hieven, hochrot angelaufen war. »In den letzten paar Tagen hatte sie sich ziemlich unwohl gefühlt. Ich habe mit der Köchin gesprochen, ob man sie mit ein paar Leckerbissen reizen könnte, aber nicht um alles in der Welt habe ich Joan dazu bewegen können, etwas anzurühren. Philip war vor Sorge ganz außer sich. Sie hätten die Schokoladentarte sehen sollen, die gestern aus der Küche kam, aber Joan hat nur mit dem Kopf geschüttelt.«
Ein einziger Blick auf Lady Joans Gesichtsfarbe und ihren verzerrten Mund hatte einen Ordner veranlasst, schnellstmöglich Hilfe herbeizuholen. Ihre untere Gesichtshälfte war zu einer grotesken Grimasse verzogen. Nachdem man eilends ihre Seidenbluse etwas gelockert hatte, wurde Lady Joan auf eine Bahre gebettet, die Treppe hinab und durch den Hinterausgang ins Freie getragen. Man legte sie vorsichtig auf den Rücksitz des Wagens. Miss Nettlefold nahm den Beifahrersitz ein, und langsam traten sie die Rückfahrt nach London an.
14
Die Nachricht von der plötzlichen Erkrankung seiner Frau erreichte Sir Philip in London, und als May in der Hamilton Terrace in St John's Wood vorfuhr, wartete er schon in Begleitung des Hausarztes und eines anderen Gentlemans in der Tür. Lady Joan hatte sich die ganze Fahrt über nicht geregt, und selbst Miss Nettlefold, die auf dem beengten Vordersitz hin und her rutschte, hatte die meiste Zeit geschwiegen. Hin und wieder hatte sie durch die geöffnete Trennscheibe nach hinten geblickt, um zu sehen, ob Lady Joan das Bewusstsein wiedererlangt hatte.
Eine Stunde später kam Sir Philip in die Küche, wo er May antraf. Er sah erschöpft aus.
»Meine liebe Miss Thomas, ich bin Ihnen sehr dankbar. Miss Nettlefold hat mir berichtet, wie gut Sie mit der Situation heute Nachmittag umgegangen sind. Ich fürchte, Lady Joan hat einen Schlaganfall erlitten. Mr Hunt, der Facharzt, ist der Meinung, die Sorgen, die sie sich in letzter Zeit um Rupert und seine politischen Ansichten gemacht hat, könnten dazu beigetragen haben. Ich fürchte, ihre Nerven sind schon seit Jahren sehr geschwächt.« Sir Philip hörte sich anders an als gewöhnlich, nicht so reserviert. Wie um sich rückzuversichern, dass auch wirklich alles getan wurde, schien er May jede Einzelheit über den Zustand seiner Frau anvertrauen zu wollen.
»Ich habe Hunt über alte Kontakte vom Balliol College kennengelernt. Er ist ein renommierter Mediziner, und das, obwohl er erst Anfang dreißig sein dürfte. Er wird bald eine Stelle an der Neurologischen Klinik von St. Batholomew's antreten. Im Lauf der Jahre haben wir uns schon mehrfach über Lady Joan unterhalten. Die Art, wie sie über den Tod ihrer jüngeren Schwester redet, Sie wissen schon.«
May nickte.
»John versteht, dass Joan über die Tragödie immer noch nicht
hinweggekommen ist. Er ist einer der wenigen Menschen, die sich für Seelenzustände dieser Art wirklich interessieren. Ich bin sehr erleichtert, dass er so kurzfristig kommen konnte. Ach, verzeihen Sie, May, ich rede einfach drauflos, nicht wahr?« Er begrub das Gesicht in den Händen. »Als hätte ihr der Verlust ihrer Schwester nicht schon genug Leid bereitet. Und jetzt noch das«, flüsterte er halb zu sich selbst.
Am folgenden Tag wurde die noch immer bewusstlose Lady Joan, begleitet von einer Pflegerin, in einem Rettungswagen nach Cuckmere Park gebracht. Falls es überhaupt eine Aussicht auf Genesung gab, so hielt Mr Hunt vollkommene Untätigkeit und Ruhe für eine wesentliche Voraussetzung ihrer Heilung. Die Pflegerin, erläuterte Sir Philip, solle dort ihren
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