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Als Mrs Simpson den König stahl

Als Mrs Simpson den König stahl

Titel: Als Mrs Simpson den König stahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Nicolson
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wenn einer der Schornsteine des dreihundert Meter langen Schiffes auf die Seite gelegt würde, ihn sechs Lokomotiven nebeneinander durchfahren könnten. May fragte sich, was wohl ihr Vater von dem Wasserfahrzeug halten würde, das die Leute »mehr eine Geste als ein Schiff« nannten. Die
Zeitungen versuchten seit Tagen, einander mit verschiedensten Statistiken über den Schiffsriesen zu übertrumpfen, und May, deren Interesse an Maschinen nicht bei Autos haltmachte, hatte jedes Detail verschlungen, das sie finden konnte. Nats Freund, der Butler, hatte ihm ein zerlesenes Exemplar der Farbdruckgedenkausgabe der Illustrated London News aus der Vorwoche überlassen, die ganz der Jungfernfahrt gewidmet war. Nicht nur wog das Schiff mehr als die gesamte spanische Armada – das Hämmern der Maschinen war so laut, dass die Reporter schon befürchteten, die gut geschüttelten Martinis würden sich bei den gewaltigen Vibrationen über den Rand der Gläser ergießen. Es gab Decks, die so lang waren wie ganze Dorfstraßen, und die Zeitschrift hatte nicht nur Hunderte von Fotos vom Inneren des Schiffes abgebildet, sondern auch Zeichnungen von der räumlichen Anordnung der Kabinen in den verschiedenen Klassen anfertigen lassen. Eine Seitenansicht des Schiffes zeigte nicht nur die Schlafkabinen, die Bibliotheken und Salons, sondern auch die beiden riesigen Sport- und Freizeitdecks, die Garage, die drei Dutzend Autos fassen konnte, die beiden Swimmingpools, das Krankenhaus, die Druckerei (für eine Tageszeitung, Speisekarten und Programmzettel), das Kino und das Friseurgeschäft. Der Schiffsgärtner hatte dafür zu sorgen, dass Hunderte von Topfpflanzen gegossen wurden, und das Promenadendeck für Hunde war mit einem zweckdienlichen Laternenpfahl ausgestattet, obwohl die Zwinger kurioserweise vom Schiffsmetzger beaufsichtigt wurden. Mays Konzentration wurde vorübergehend von der Erinnerung an Wiggle getrübt. Doch als sie umblätterte, gelangte sie zu den unterhaltsameren Tabellen. Unter anderem verzeichneten sie die riesigen Mengen Leinen an Bord, darunter 21 000 Tischtücher und 31 000 Kopfkissenbezüge. Eine Speisekammer enthielt ganze Fässer voll Kaviar. Der findige Illustrator verdeutlichte in einer Zeichnung, dass die Queen Mary mit ihren Schornsteinen, die vom Kiel des Schiffes bis zu einer Höhe von einundsechzig Metern aufstrebten, Lord
Nelsons Dreispitz auf seiner Säule am Trafalgar Square um neun Meter überragte. Und eine raffinierte Skizze des neuen Speisesaals wies nach, dass die Mayflower der Pilgerväter nur eine winzige Ecke ausgefüllt hätte.
    Auf dem Kai stand die Portsmouth-Division der Königlichen Marine in Habtachtstellung. Herausgeschmückt mit weißen Helmen, die wie Vollmonde über den rot-blau-goldenen Uniformen schimmerten, machten einige der kleiner gewachsenen Kapellenmitglieder den Eindruck, als würden sie jeden Augenblick umkippen, nicht nur wegen des Gewichts der riesigen Trommel, die ihnen um den Hals hing, sondern auch wegen der Bedeutsamkeit der Rolle, die sie an diesem besonderen Tag spielen durften. Viele der Gebäude, die den Kai säumten, wirkten höher als gewöhnlich, lotrecht verlängert von Tausenden von Zuschauern, die sich auf jedem verfügbaren Quadratmeter Dachfläche drängten, um eine bessere Aussicht genießen zu können. Es war bereits vier Uhr, und May umarmte Sam zum Abschied, bevor sie zu ihrem Sitzplatz in dem abgeriegelten Chauffeursbereich neben der vollbesetzten Ehrenloge zurückeilte. Unter ihnen hatte Sams schlanke Gestalt wieder ihren Platz in der kleinen Gruppe strammstehender Marineoffiziere eingenommen, die dem Admiral eine gute Reise wünschten. May gelang es, Miss Nettlefolds Aufmerksamkeit zu erregen. Als diese sah, wie May stolz auf ihren Bruder deutete, strahlte sie sie an.
    Bald stiegen aus der Menge, die im Radio auf eine Viertelmillion geschätzt worden war, laute Jubelrufe auf, begleitet von dem Humpta-humpta der Kapelle, die »Rule Britannia« spielte. Flaggen wehten in der Luft, Hüte wurden geschwenkt, und Taschentücher trugen das Ihre zu all dem Geflatter in der Brise bei. Jeder hoffte, dass der Regen ausbleiben würde. Seeflugzeuge glitten über die Wasseroberfläche und setzten mit der Behändigkeit von Libellen auf, bevor sie mit ebenso geschmeidiger Leichtigkeit wieder abhoben. Kleine, mit Filmkameras ausgerüstete Flugzeuge kreisten surrend am bedrohlich grauen Himmel.
Der Nachrichtenproduzent Pathé News hatte garantiert, dass die daraus

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