Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)
damals schon recht teuer. Und es stand natürlich die Frage im Raum, ob man es sich tatsächlich leisten konnte, mal eben mehrere Tausend Mark für eine Orgel auszugeben. Die Antwort war schnell gefunden: Nein.
Also wurde entschieden, das Instrument zunächst einmal zu mieten. Wenn es mir wirklich gefiele und ich es nicht nach ein paar Wochen schon aus reiner Langeweile auseinandernehmen würde, könnte man das Instrument nach einigen Jahren auch kaufen. Eine kluge Entscheidung, zumal ich mich in einem Alter befand, in dem Wünsche, Stimmungen und Ansichten fast im Minutentakt wechselten, was Fachleute auch gerne mit dem Begriff »präpubertär« umschreiben.
Es kam schon bald der Tag, an dem wir das Instrument geliefert bekommen sollten. Meine Eltern hatten einen Lehrer organisiert, welcher auch mitgeholfen hatte, die Orgel auszusuchen, und da dieses Ding unfassbar groß und schwer war, erfolgte die Anlieferung mit einem großen Lkw. Ich sehe mich noch heute auf unserem Sofa direkt am Fenster stehen, die Blumen meiner Mutter zur Scheibe gedrückt die Straße beobachten, ob und wann nun endlich dieser Lastwagen käme. Und dann – nach einer nicht enden wollenden Ewigkeit – war es endlich so weit. Die Laderampe des Transporters hob sich und da stand er: ein riesiger, mit Karton umhüllter Klotz. Mehrere Leute wuchteten das Ungetüm ins Treppenhaus und durch unsere Wohnung hindurch in mein Kinderzimmer. Meine Mutter unterschrieb ein paar Formulare und dann stand das Ding in meinem Zimmer.
Ich war von dem Anblick der Orgel völlig hingerissen. Das Ding war fast so groß wie ich und als ich mich zum ersten Mal davor setzte, kam ich mir vor wie Captain Kirk auf dem Raumschiff Enterprise. So viele Knöpfe und Regler hatte ich noch nie gesehen. Ich schloss die Orgel an der Steckdose an und schaltete das Gerät ein. Ein tiefer, satter Ton war zu hören und zu den Reglern und Schaltern kamen nun noch jede Menge Lichter und Lämpchen dazu. Ich drückte irgendeine Taste und hörte den ersten Ton. Ein Traum …
Ich sehe meine Mutter noch immer, wie sie lächelnd in meinem Zimmer stand und mich überglücklich anschaute. Dann verließ sie schließlich das Zimmer und überließ mich ganz einfach meinem Glück.
Ich spielte naturgemäß keine Melodien, geschweige denn ganze Lieder. Ich klimperte vielmehr völlig wahllos darauf herum, probierte die unzähligen Knöpfe, Lichter und Schalter aus und war immer wieder aufs Neue gespannt, welche Töne erklangen, wenn ich die verschiedenen Tasten anschlug. Schnell fand ich die Rhythmusabteilung und so dudelte ich irgendwelche, vermutlich schrecklich klingenden Melodien vor mich hin, bis irgendwann meine Mutter vorsichtig die Türe öffnete und mich sanft darum bat, die Orgel etwas leiser zu stellen.
In den folgenden Tagen spürte ich immer deutlicher, wie wertvoll dieses Instrument für mich werden sollte. Ich hatte etwas, bei dem ich nicht zu reden brauchte. Da war etwas, mit dem konnte ich einfach Musik machen – und man hörte mir sogar zu, obwohl doch alles noch sehr willkürlich, orientierungslos und schräg klang. Aber ich konnte mich mit etwas beschäftigen, was ich unbedingt machen wollte – und konnte dabei schweigen.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich keinen Lehrer gebraucht, um das Orgelspiel zu erlernen. Zum damaligen Zeitpunkt reichte es mir völlig aus, einfach auf dem Instrument herumzuklimpern. Heute bin ich froh, dass sich meine Eltern durchgesetzt hatten, denn nur mit dem Unterricht verstand ich am Ende auch, was ich da machte, und konnte somit Dinge umsetzen, die ich ohne Hilfe nie hätte leisten können.
Irgendwann kam dann also mein Orgellehrer. In der ersten Stunde ging es nur um kleine Fingerübungen in Gestalt der Tonleiter. Es war schrecklich. Immer dieselbe Abfolge, wieder und wieder und wieder. Zunächst nur mit der rechten Hand, dann mit beiden Händen gleichzeitig und zuletzt auch noch mit den Füßen auf den Basspedalen …
Um zu zeigen, was aus mir vielleicht einmal werden könnte, demonstrierte mein Orgellehrer nach der ersten Stunde, wie man so ein Instrument spielt – wenn man es denn wirklich beherrscht. Er zimmerte ein Deutsches Volkslied in einer sagenhaften Geschwindigkeit auf meine Orgel, sodass seinen Fingern und Bewegungen kaum noch zu folgen war. Meine Eltern waren sichtlich beeindruckt und gaben dem Musikpädagogen heftigen Applaus. Ich indes war wenig beeindruckt, sondern hatte eigentlich nur Angst, dass dieser Mensch
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