Als Musik meine Sprache wurde - Die offizielle Autobiografie (German Edition)
solchen Momenten dann passieren kann, ist der gut gemeinte Versuch des Gegenübers, das besagte Wort vorzusagen. Diese Menschen wissen nicht, dass Stotterer keine Souffleure brauchen. Diese unbedachten Hilfestellungen waren vielmehr demütigend und führten dazu, dass man es sich künftig mehrfach überlegte, ob man überhaupt etwas sagen wollte.
Auch einige Lehrer an meiner Schule gingen nicht so behutsam mit meiner Störung um, wie man es sich hätte wünschen dürfen. Viel zu oft quittierten sie meine Sprechprobleme mit Ungeduld, waren womöglich auch der Ansicht, dass mein Stottern auf fehlendes Wissen hindeuten könnte – und wandten sich entnervt einem anderen Schüler zu. Ein verheerender Kreislauf.
Auch bei mir zu Hause versuchte man nun, etwas gegen meine Sprechstörung zu unternehmen. Meine Eltern waren zu der Ansicht gelangt, ich könnte durch regelmäßiges Vorlesen mehr Sicherheit beim Sprechen bekommen. Aber genau das Gegenteil traf zu: Während ich bis dahin mein Elternhaus als eine Oase empfunden hatte, in der es weder Druck noch Strenge oder Strapazen gab, war ich von einem Tag auf den anderen auch hier gezwungen, Leistungen abzurufen, zu denen ich jedoch ganz offensichtlich nicht imstande war.
Die Konsequenz war erschreckend, aber letztlich klar nachvollziehbar: Ich bin fortan nicht mehr gerne nach Hause gekommen!
Was bis zum heutigen Tag niemand restlos zu erklären vermag, ist die Tatsache, dass ich in all diesen Jahren zu ganz bestimmten Zeiten keine Sprechprobleme hatte. Und das war stets im Urlaub. Ein Junge, der Tag für Tag stottert, spricht mit einem Mal flüssig und ohne Probleme – aber eben nur für ein paar Tage oder Wochen. Sobald die Schulferien begonnen hatten und wir mit der gesamten Familie in den Urlaub gefahren waren, hörte mein Stottern schlagartig auf. Es war, als ob mich der Schulalltag aus seiner Zwangsjacke entlassen hatte. Und mit dieser Freiheit, die leider immer nur von kurzer Dauer war, lösten sich all meine Probleme und Blockaden. Bis zum nächsten Schultag …
Die Kompensation, die ich im Sport gesucht hatte, schien die perfekte Lösung zu sein. Wer beim Fußball als Erster in die Mannschaft gewählt wurde, musste keinen Spott fürchten. Auch nicht, wenn er stotterte. So schlicht waren die kindlichen Gesellschaftshierarchi en nun mal gestrickt. Meine Strategie war erstaunlich gut aufgegangen und so hatte sich sehr früh schon ein Leitmotiv entwickelt, was mich im Grunde bis heute stark beeinflusst und auch geprägt hat: Du musst einfach besser sein als die, die dich auslachen!
Gleichwohl war mein Leben in diesen Jahren von meiner Sprechstörung geprägt. Ich musste zu Logopäden, in Sprechtherapiegruppen, wo ich manchmal das Gefühl hatte, dass es der liebe Gott noch gut mit mir gemeint hatte, waren dort doch Kinder dabei, die es deutlich ärger erwischt hatte. Mittags, nach der Schule, geriet ich regelmäßig mit meiner Mutter in Streit, weil ich nicht vorlesen wollte, und der Druck, der mich zum Stottern gebracht hatte, wurde im Grunde immer größer.
Ich sehe mich noch ganz deutlich an unserem Küchentisch sitzen. Das Übungsbuch lag aufgeschlagen vor mir und meine Mutter war wohl kurz einkaufen gegangen. Meine Verzweiflung war derart groß, dass ich mir damals als kleiner Junge tatsächlich überlegt hatte, wie es wohl wäre, wenn ich mich in diesem Augenblick mit einem Messer verletzen würde. Die Antwort war verlockend: Ich müsste nicht mehr lesen …
Aber ich tat es nicht. Ich litt still und stumm weiter und fand mich damit ab.
Auch im Sport – meiner Ersatzsprache gewissermaßen – taten sich erste Risse auf. Während mein Bruder in jenen Tagen sehr vielversprechend im Verein Tischtennis spielte, stellten sich bei mir die Erfolge in dieser Sportart entweder gar nicht oder nur sehr schleppend ein. Ich trainierte wie besessen auf unserem Speicher – wir hatten damals sogar so eine Art Ballmaschine, die mir ganze Nachmittage lang die Bälle auf die Vor- oder Rückhand spielte, aber ich wurde nicht so gut, wie ich es gerne gehabt hätte – und wie es mein Vater von meinem großen Bruder gewohnt war. Das wiederum ließ meinen Vater von Mal zu Mal ungeduldiger werden, weil er einfach nicht verstehen konnte, warum ich nicht so schnell lernte wie mein Bruder.
Und da war er erneut in mein behütetes zu Hause eingedrungen: der Leistungsdruck! Der Sport, mit dem ich mich auf der Straße und in der Schule behaupten konnte, half mir zu Hause
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