Als Mutter verschwand
Seoul war, hast du mich jedes Mal ohne den Rest der Familie ausgeführt, ins Kino oder zu den Königsgräbern. Du bist mit mir in ein Geschäft gegangen, wo es Musik zu kaufen gab, und hast mir Kopfhörer aufgesetzt. Durch dich habe ich Orte wie das Gwanghwamun Tor und den Rathausplatz kennengelernt, durch dich habe ich erfahren, dass es auf dieser Welt Filme gibt und Musik. Ich dachte, du würdest ein anderes Leben haben als die anderen. Anders als deine älteren Geschwister hast du nie Mangel gelitten, und ich habe dir alle Freiheit gelassen. Und in deiner Freiheit hast du mir oft gezeigt, dass es noch mehr auf der Welt gab, als ich kannte. Also wollte ich, dass du noch freier sein solltest, so frei, dass du den Menschen etwas geben könntest.
Ich glaube, ich gehe jetzt.
Oh ⦠Das Baby sieht aus, als ob es gleich einschläft. Es sabbert und hat die Augen halb zu. Jetzt, wo die beiden gröÃeren Kinder bei der Nachhilfe sind, ist es im Haus ruhig. Aber schau dir das an! Das Haus ist ein einziges Chaos. Meine Güte, so eine Unordnung habe ich noch nie gesehen. Ich würde so gern für dich aufräumen ⦠aber das kann ich jetzt nicht. Du döst ein, während du das Baby einzulullen versuchst. Wie müde du sein musst. Meine Kleine schläft, ihren Kleinen im Arm. Warum schwitzt du denn so, mitten im Winter? Mein Liebes, meine Tochter, bitte entspann dein Gesicht. Du kriegst Falten, wenn du mit so angespanntem Gesicht schläfst. Wo ist dein Kindheitsgesicht geblieben? Deine mondsichelförmigen Augen sind geschrumpft. Deinem Lächeln fehlt der frühere Charme. Wenn ich dich jetzt mit den ersten Falten sehe, war mein Leben wohl nicht gerade kurz. WeiÃt du, Liebes, ich hätte einfach nie gedacht, dass du mal drei kleine Kinder haben würdest. Du warst ganz anders als deine emotionale Schwester, die so schnell wütend wurde oder in Tränen ausbrach, die so leicht schmollte und blau im Gesicht wurde, wenn etwas nicht nach ihrem Willen ging. Du hast dir immer einen Plan gemacht und dich bemüht, ihn einzuhalten. Als du zu mir sagtest: »Ich war nicht auf ein drittes Kind gefasst, Mama, aber als ich schwanger war, musste ich es kriegen«, warst du mir so fremd. Ich dachte immer, wenn eine von euch viele Kinder bekommen würde, dann deine Schwester.
Du wirst nie wütend. Von all meinen Kindern bist du das Einzige, das ruhig und vernünftig bleibt, selbst wenn der andere furchtbar wütend ist. Deshalb dachte ich, du würdest dir das mit Kindern gut überlegen und nur eins bekommen. Du hast nie Theater gemacht, weil du irgendetwas wolltest, anders als deine Schwester, die Tobsuchtsanfälle kriegte, weil sie nicht auch so einen Schreibtisch hatte wie eure Brüder. Wenn du auf dem Boden gelegen und etwas geschrieben hast und ich dich gefragt habe, was du machst, hast du meistens gesagt: »Meine Mathehausaufgaben.« Deine Schwester hat kein Mathematikbuch freiwillig angeguckt, aber du warst in diesem Fach richtig gut. Mit der dir eigenen Konzentration hast du versucht, die Aufgaben zu lösen, und wenn du die Lösung dann hattest, hast du zufrieden gelächelt.
Aber was mit mir passiert ist, kriegst du nicht heraus. Das muss dich quälen. Mit deinen drei Kindern kannst du nicht nach mir suchen. Du kannst nur jeden Abend deine Schwester anrufen und fragen: »Gibtâs irgendwas Neues wegen Mama?« Mein Liebes, meine Tochter. Ich habe in letzter Zeit nicht so viel für dich tun können, wie ich gewollt hätte, aber ich habe viel an dich gedacht, wenn ich klar im Kopf war. An dich und die drei Kinder, die du groÃzuziehen hast, eins davon noch ein Baby, das gerade erst laufen lernt, an dein Leben. Es hat mir leidgetan, dass ich nicht mehr für dich tun konnte, als dir selbst gemachten Kimchi zu schicken. Es hat mir schier das Herz gebrochen, als du das eine Mal mit dem Baby zu Besuch gekommen bist und dir die Schuhe ausgezogen und lachend gesagt hast: »Oh, Mama, schau, ich habe ungleiche Socken an.« Wie hektisch es bei dir zugehen muss, wenn du, die du immer so ordentlich warst, nicht mal die Zeit hast, zusammenpassende Socken herauszusuchen. Manchmal, wenn ich klar im Kopf war, habe ich an all die Sachen gedacht, die ich für dich und deine Kinder tun müsste. Und das hat mir den Willen gegeben, am Leben zu bleiben ⦠aber dann ist es so gekommen.
Ich würde gern diese blauen Plastiksandalen
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