Als wäre es Liebe
bis er wieder einen sicheren Stand hatte. Sie war nicht auf die Idee gekommen, dass er nicht schwimmen konnte. Erst als er da stand, für einen Moment regungslos, fuhr der Schreck auch in ihren Körper. Vielleicht hatte er gerade ums Überleben gekämpft, und sie? Sie hatte sich amüsiert. Auch Schmidt und Fritzmann hatten belustigt Notiz von seinem Geplansche genommen. Sie hielten ihre Wurststullen in den Händen und schauten ihm zu. Es ist ihr so unangenehm im Nachhinein, vor allem, dass sie ihm zu allem Überfluss auch noch applaudiert hatte. Er stand immer noch bis zur Brust im Wasser, aber seine Haare hingen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht. Sie brauchte einige Momente, um wieder klar denken zu können. Sie machte ein paar Schritte ins Wasser, sie rief seinen Namen, sie streckte ihre Hand aus, als hätte er sie auf diese Entfernung ergreifen können. »Alles klar?«, hörte sie Fritzmann von der Bank aus rufen. Sie hatte sich vorgenommen, ihm das Schwimmen beizubringen. Es war eines der Dinge, die sie mit ihm hatte unternehmen wollen.
Der See, und der Gedanke kommt ihr jetzt erst, hätte ihm das Leben im Knast erspart. Es wäre so leicht für ihn gewesen. Er hätte einfach weitergehen müssen, bis er den Stand verloren hätte, er hätte ertrinken können, sie wären so schnell nicht bei ihm gewesen. Keiner von ihnen hatte an diese Möglichkeit gedacht. Weder sie noch der Pfarrer oder Fritzmann hatten versucht, ihn vom Baden abzuhalten. Hat er einen Moment lang an die Möglichkeit gedacht, als er unter Wasser war? Sie hat ihn später gefragt, ob er sich nicht manchmal gewünscht habe, tot zu sein. Er hat sie fragend angesehen und dann gesagt: »Nein.« Und das nach Jahrzehnten im Gefängnis. Ihm musste das Gefühl für Zeit längst abhandengekommen sein, hatte er doch nichts, woran er sich orientieren konnte. Der Kalender nutzte ihm nichts, weil er das Ende nicht kannte. Darüber hat sie oft nachgedacht, dass es vielleicht die größte Strafe ist, nicht zu wissen, wie viele Tage noch bleiben, andere konnten Kreuze machen, Kalenderblätter abreißen, Knoten in Fäden binden, sie konnten sehen, wie die Anzahl der durchgestrichenen Tage wuchs, wie der Kalender immer dünner und der Faden immer kürzer wurde. Sie konnten subtrahieren, aber er hatte keine Zahl, mit der er rechnen konnte – unendlich ist keine Zahl. Er verlor die Zeit in seiner Sprache, kein Präteritum, kein Futur, er sprach im Präsens. Er war eingesperrt und wusste nicht, wie lange. Sie konnte es nicht begreifen, aber offenbar hatten sie Angst vor ihm, vor einem fast siebzigjährigen Mann, der am Ende Windeln tragen musste, weil er Bettnässer geworden war. Sie ärgerte sich über die Verlogenheit. Sie sprachen von Resozialisierung, in Wirklichkeit ging es ums Wegschließen, am besten für immer. Das nannte sich dann Sicherheitsverwahrung. Was hinter den Gefängnismauern geschah, interessierte die Gesellschaft nicht. Bis in die achtziger Jahre wurde die Stereotaxie praktiziert, Hirnoperationen bei Sexualstraftätern, die meisten von ihnen werden medikamentös kastriert. Auch Friedrich bekam all die Jahrzehnte Triebhemmer. Gegen die Kastration hatte er sich wehren können. Während der sechziger Jahre verbrachte er neunhundert Tage in einem dunklen Kellerverlies, er bekam siebenhundert Gramm trockenes Brot, alle drei Tage eine Decke, und er schlief auf einer Holzpritsche ohne Matratze. Und als er nicht mehr essen wollte, schoben sie ihm einen Schlauch in den Rachen. Es war der Versuch, ihm die Würde zu nehmen. Nur kleinen Kindern presst man Essen in den Mund, obwohl sie nicht mehr wollen. Einen für Opa, einen für Oma, einen für Mama. Das hätten sie mal mit ihm machen sollen. Einen für Fritzmann. Einen für den Pfarrer. Einen für den Anstaltsleiter. Wahrscheinlich hätte er sogar für jeden den Mund geöffnet. Aber sie haben lieber zum Schlauch gegriffen. Sie hörte davon, dass Vollzugsbeamte bis in die neunziger Jahre die neuen Häftlinge zur Begrüßung mit nassen Handtüchern geschlagen hatten, was schmerzhaft war, aber keine sichtbaren Male zurückließ. Die meisten, sagte der Pfarrer, seien nach zehn Jahren schon gebrochen und würden als »Gemüse« bezeichnet, weil sie nur noch vegetierten. Aber Friedrich war kein Gemüse. Und wahrscheinlich gab es unter Wasser diesen Moment für ihn nicht.
Sie sagte: »Frierst du nicht? Deine Lippen sind ganz blau.«
Sie wusste gar nicht, woher das kam. Sie hatte noch nie blaue Lippen gesehen,
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