Als wäre es Liebe
und sie hielt am Straßenrand und schaute erst den Pfarrer an und dann Fritzmann. Aber keiner kannte sich aus. Friedrich wollte an einen See. Irgendwo musste es einen See geben, jeder Ort hat einen See. Sie fragten und kamen an einen Baggersee. Wenn sie nur den Namen wüsste … irgendetwas mit Metzger oder Schlachter. Ihn brauchte sie nicht zu fragen, selbst wenn er bei ihr im Auto säße. Er war viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass er sich Wege hätte merken können. Er hatte während jeder Fahrt mit seiner Übelkeit zu kämpfen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie fuhr, der Pfarrer hatte keinen Führerschein, und Fritzmann musste Friedrich im Blick behalten. Nach jeder Kurve, die sie so sanft wie möglich zu nehmen versuchte, sah sie sein bleiches Gesicht im Rückspiegel. Manchmal fuhr sie dann an den Straßenrand und hielt an. »Kaum zu glauben, dass du mal auf dem Rummel gearbeitet hast«, sagte der Pfarrer und hielt ihm eine Tüte hin.
Rechts oder links? Sie hält an und fragt nach einem Metzger- oder Schlachtersee. Er scheint bekannt zu sein, der Erste schon, ein junger Mann, beschreibt ihr den Weg. Sie war dicht dran, was den Namen anging: Metzgerallmend.
Der Weg führt durch einen Wald. Sie stellt das Auto auf einem Parkplatz ab. Es ist kalt draußen, Haufen von verwelkten Blättern auf den Wiesen, über die man zum Ufer gelangt, aber auch auf dem Schotter des Parkplatzes. Sie steigt aus und knöpft sich den Mantel zu.
Das Wasser ist so klar, der Grund schimmert durch. Sie sieht einzelne Steine, Schilf, das durch die Wasseroberfläche merkwürdig gebrochen aussieht. Am rechten Ufer ein Waldstück, Bäume, die bis zum See reichen, dazwischen kleine Lichtungen, ein Rundweg. Auf einer dieser kleinen Lichtungen steht ein Mann, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt. Er blickt auf den See, hält eine Hand schützend über die Augen, er sieht der Sonne entgegen, deren Licht von der Wasseroberfläche reflektiert wird. Sie versucht, seinem Blick zu folgen, aber sie kann nicht erkennen, nach was er Ausschau hält. Das Wasser muss eisig sein. Damals schon war es ihrem Empfinden nach eisig, und es war Anfang Juni. Friedrich hatte sich nicht abschrecken lassen. Pfarrer Schmidt und Fritzmann setzten sich auf eine Bank und packten ihre Stullen aus. Sie stand am Ufer, hatte sich die Schuhe ausgezogen und ihre Zehen in den kühlen Sand gegraben. Friedrich war hinter einem Busch verschwunden, sie sah, wie er sich den Pullover über den Kopf zog, sich bückte und kurz darauf, in Badehose bekleidet, zurückkam. Die Badehose hatte sie ihm gekauft. Rot war sie, leuchtend rot, und ihm ein wenig zu eng. Sie sah später, wie der Bund ihm in die Haut geschnitten hatte und einen rundum laufenden Striemen hinterließ. Es war das erste Mal, dass sie ihn nahezu unbekleidet gesehen hat, seine etwas zu dünnen Beine, ein schlaffer Bauch, blasse Haut. Er war kein schöner Mann, aber darum ging es auch nicht. Sie hat sich nie nach einer sexuellen Nähe zu ihm gesehnt. Es soll Frauen geben, die von der Vorstellung eines Gewaltverbrechens sexuell erregt werden, aber sie ist keine von ihnen. Sie muss an den Pfarrer denken, der sagte, Friedrich sei in seiner Einfalt und seinem Bedürfnis nach Ehrlichkeit ein Kind. Wahrscheinlich war es das, was ihn ausmachte: die Einfalt, letztlich die Unschuld. »Kennen Sie das Lied vom Mond, der aufgegangen ist, und den goldnen Sternlein, die prangen?«, fragte der Pfarrer, »die wenigsten kennen die Strophe, die lautet: Lass uns einfältig werden / Wie Kinder fromm und fröhlich sein!«
In seiner roten Badehose stand er vor ihr, machte den ersten Schritt ins Wasser, und als er bis zu den Knien im Wasser stand, drehte er sich um und winkte ihr. Er war ein alter Mann, obwohl sie das nicht wahrhaben wollte. Sie fragt sich, ob es ein Durcheinander gibt in ihrem Kopf, ein Durcheinander der Bilder und der Vorstellungen. »Ich kann meine Zehen sehen«, rief er. Und dann ging er weiter, und das Wasser stand ihm bis zur Brust. Er ging in die Knie und tauchte bis zum Kinn ein, während sein Bart wie ein flauschiger Teppich auf der Oberfläche trieb. Dann auf einmal sprang er auf und jauchzte und schlug mit den Händen aufs Wasser. Er spritzte und vollführte Pirouetten. Dann kippte er ins Wasser und tauchte ganz unter und blieb verschwunden. Er verlor offensichtlich die Orientierung, weil er, nachdem er den Kopf wieder über Wasser hatte, hektisch in alle Richtungen sah und einige Momente brauchte,
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